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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville
Autoren: T. C. Boyle
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Schnürstiefeln bis zu der Spitze seines Spitzbarts und dem feinen, bleichen Haar, das an seinem Haupt klebte. Er hielt einen Augenblick inne, um an seinem Glas mit Wasser zu nippen und den Geschmack von Charlie Post hinunterzuspülen.
    Er stellte das Glas wieder ab, blickte kurz auf und sah, daß das Publikum gebannt jede seiner Gesten verfolgte; ein halbes Dutzend Zuhörer gaffte ihn regelrecht an. Er bedachte sie mit einem wissenden Blick und wandte sich dann seinem Assistenten zu. »Frank, ich will, daß Sie zum Küchenchef in die Post Tavern gehen – ein Koch von internationalem Ruf, wie mir gesagt wurde, ein Feinschmecker, den Mr. Post aus Paris hat kommen lassen, ein gewisser Monsieur Delarain, so heißt er doch, nicht wahr? –, und ich will, daß Sie das beste Steak kaufen, das sie dort haben, und es hierherbringen, hier herauf auf dieses Podium, damit wir es uns genau ansehen können.«
    Verhaltenes, leises Lachen, Scharren von Stuhlbeinen.
    »Nun, gehen Sie, Frank – fliegen Sie. Worauf warten Sie noch?«
    »Ein Steak, Sir?« Frank kannte die Prozedur, Gott segne ihn, einen so verläßlichen Souffleur fand man nicht so schnell ein zweites Mal.
    »Nicht irgendein Steak, Frank – das beste, das man für Geld kaufen kann.«
    Franks Miene war ein offenes Buch. Er war arglos, so verblüfft wie die Zuhörerschaft, sein einziger Wunsch war, es seinem Boss recht zu machen. »Ich bin im Handumdrehen zurück«, kündigte er an, und schon wandte er sich ab, machte sich bereit, den Gang entlangzuflitzen, als der Doktor erneut sprach.
    »Und noch was, Frank«, sagte er und zog die Worte in die Länge, »Frank, würden Sie mir einen weiteren großen Gefallen tun?«
    Schweigen. Im ganzen Saal atmete niemand aus.
    »Würden Sie beim Mietstall vorbeischauen und von dort eine Probe anderer Art mitbringen – damit wir vergleichen können?« Der Doktor kicherte gutmütig, onkelhaft, herzlich, der Inbegriff von Freundlichkeit und Vernunft. »Ich meine, ein bißchen, also, Pferdeexkrement« – erstauntes Gelächter, das sich ausbreitete, Lachsalven, so lautstark, daß der Nachsatz kaum mehr zu hören war –, »ungefähr fünfhundert Gramm, um genau zu sein … will sagen, von der Größe eines guten einpfündigen Steaks.«
     
    Es war ein typischer Montagabend im Battle-Creek-Sanatorium, der Bastion korrekten Denkens, vegetarischer Lebensart und Schulung, der Zitadelle der Mäßigung und eines reformierten Bekleidungsstils und – kein Zufall – der gesündeste Ort auf Erden. Die Frauen ohne Korsetts, die Männer mit locker sitzenden Hosenträgern, verdauten beide Geschlechter in aller Ruhe ihre Ladung giftfreien Abendessens in einer von Tabak, Alkohol, Corned beef, Lammkoteletts und koffeinbedingter Nervosität gesäuberten Atmosphäre. Mit vollen Bäuchen und ruhigem Gewissen hatten sie sich im Großen Empfangssaal versammelt, um sich von ihrem Boss instruieren zu lassen in Sachen körperlichen Wohlbefindens und dessen positiver Begleiterscheinung, Langlebigkeit. Sie hätten sich auch in Baden-Baden oder Bad Wörishofen oder Saratoga aufhalten können, aber sie hatten sich hier eingefunden, im Gefrierschrank Südmichigans – und sie zahlten einen hübschen Preis für dieses Privileg –, weil kein anderer Ort auf der Landkarte diesem gleichkam.
    Während seiner einunddreißig Jahre als Direktor hatte Dr. Kellogg das San, wie es liebevoll genannt wurde, von einem Hospiz der Adventisten, das sich auf Grahambrot und Wasserkuren spezialisiert hatte, zu dem Tempel der Gesundheit umgewandelt, der es jetzt war, einem Ort, der in ganz Amerika gefeiert wurde – und jenseits des großen, weiten, wogenden Atlantiks in London, Paris, Heidelberg und in noch entfernteren Orten. Jährlich schritten zweitausendachthundert Patienten durch seine Portale, und eintausend Angestellte, darunter zwanzig vollbeschäftigte Ärzte und dreihundert Krankenschwestern und Verantwortliche für die Bäder, kümmerten sich um ihre Bedürfnisse. Sechs Stockwerke hoch, mit einer luxuriösen Eingangshalle, halb so groß wie ein Fußballfeld, mit vierhundert Zimmern und Behandlungsräumen für eintausend Personen, mit Aufzügen, Zentralheizung und Klimaanlage, hauseigenen Schwimmbädern und einer ganzen Reihe therapeutischer Ablenkungs- und gesundheitsfördernder Unterhaltungsmöglichkeiten, war das San das sine qua non des Kurgeschäfts – Luxushotel, Krankenhaus und Heilbad in einem.
    Und der Impresario, der Boss, der über allem herrschende Geist
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