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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville
Autoren: T. C. Boyle
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mit gebratenem Hühnerfleisch neigten und in ihren dreiviertellangen Hosen anschwollen mit Fleischmassen, die mit sich herumzuschleppen keinem menschlichen Wesen von Haus aus bestimmt war. Sie beobachtete sie, und sie dachte darüber nach, und je mehr sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, daß Dr. Kellogg recht gehabt hatte (vielleicht nicht Spitzvogel oder Lionel Badger, der mit neunundvierzig einem Herzschlag erlegen war, und der Gedanke an sie und daran, was zwischen ihnen geschehen war, ließ sie all die vielen Jahre später noch immer erröten und ihr Herz schneller schlagen – sie vielleicht nicht, aber Dr. Kellogg).
    Sie kam sich wie eine Abtrünnige vor und gab das bißchen Fleisch, das sie sich im Lauf der Jahre angewöhnt hatte zu essen, wieder auf, stählte ihren Willen, grub ihre alten Broschüren aus, die Hefeflocken und die zerfledderten Seiten von Dr. Kelloggs Nüsse können die Rasse retten. 1958, im Alter von neunundsiebzig, tat sie sich mit ihrer jüngsten Tochter zusammen, und sie eröffneten Peterskills ersten Laden für Gesundheitskost, füllten die Regale mit Fischtrankapseln, Vitaminpräparaten, Tahin, Wantan-Teig und großen Säcken mit Sesamsamen, geschrotetem Weizenmehl, ungeschältem Reis und getrockneten Sojabohnen. Ein Entsafter stand auf dem Ladentisch, und Muskelprotze, Transzendentalisten, Unitarier und Chiropraktiker aus dem Ort schauten vorbei auf einen Joghurt-Lezithin-Shake oder ein Glas Karottensaft. Sie starb 1967, im Alter von achtundachtzig Jahren, und niemand wußte, warum.
    Aber Dr. Kellogg – Dr. Kellogg, dieser erstaunliche Drahtseiltänzer und agile Proselytenmacher, dieser knickerige, Ernährungsgewohnheiten verändernde, revolutionäre Urgroßvater und Gründer des gesamten Nahrungsmittelgeschäfts und dessen vorsitzendes Genie, was war mit ihm? Er erlebte Erfolge und Fehlschläge, wie jeder andere auch, aber er ließ in seiner Wachsamkeit nicht nach und keine Gelegenheit aus, sich photographieren zu lassen. So können wir ihn noch heute sehen, sein Porträt in der Galerie der Gefeierten neben Sylvester Graham, Bronson Alcott, Thomas Edison und Old Parr, ewig lächelnd mit einem Mund voller physiologischer Zähne, sein weißer Kakadu auf seiner weißen Schulter. Oder, mit Siebzig, auf dem Fahrrad, wie er für die Kamera in kurzen Hosen Achter fährt oder Kegel schiebt oder Hanteln stemmt oder 1933 mit Einundachtzig vom höchsten Sprungbrett des Miami-Battle-Creek-Sanatoriumspools in Miami Springs, Florida, einen dreifachen Auerbachsalto springt.
    Er kämpfte seine Schlachten und feierte seine Triumphe. Aber am Abend des einunddreißigsten Mai 1908, während Feuerwerksraketen in den Himmel schossen und die ganze Schar seiner Hausgenossen, Partner, Patienten, Verehrer und Vertrauten in Ohs und Ahs ausbrach und angestrengt zum Himmel emporblickte, hatte er schmutzige Arbeit zu erledigen, ein paar Lügen zu erzählen, ein bißchen Dreck unter den Teppich zu kehren. Er sah sich einem überraschten Murphy, Linniman und zwei Dutzend anderen gegenüber, die sich auf das Feuer gestürzt hatten und immer noch am Löschen waren, als er zerlumpt und zerfetzt den Flur im Erdgeschoß entlanghumpelte. In seinem Gesicht glänzten Blut und Schweiß, die harte, stolze, geschwollene Kugel seines nackten Bauches war mit einer Schicht Makadamia-Öl überzogen, und er schleppte einen Gestank nach Darmgeheimnissen mit sich, der zwei ausgewachsene und eudämonistisch gesunde Männer veranlaßte, sich abzuwenden und zu würgen. »Es war George«, rief er mit zittriger Stimme und aschfahlem Gesicht, »er ist für alles verantwortlich. Er hat mich angegriffen, Feuer gelegt, die Tiere rausgelassen.« Er zauderte, überwältigt. Sie kamen auf ihn zu, aber er winkte sie weg. »Ich habe versucht, ihn zu retten«, sagte er mit erstickter Stimme, und dann sprach er kein Wort mehr.
    Dann kamen die guten Jahre, die besten Jahre des San, die Jahre, als alle Welt bei ihm abstieg, bei John Harvey Kellogg, dem Einzigartigen, dem Unanfechtbaren, bei der Autorität, dem König. Dann kam der Krieg, eine kranke rote Flut, die anschwoll und wieder verebbte, und anschließend hielten die zwanziger Jahre Einzug, die Frauen tauschten lange Kleider und Hüte mit Federn gegen kurze Röcke und Topfhüte, Ragtime wurde vom Jazz abgelöst, und das Sanatorium in Battle Creek schwamm höher und höher auf der Woge, unsinkbar. John Harvey Kelloggs flinke Finger und sein messerscharfes Skalpell
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