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Willenlos

Willenlos

Titel: Willenlos
Autoren: Erwin Kohl
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tatsächlich den armen Ulrich wiedererkannt. Bartrams Mundwinkel glitten bei dem Gedanken nach oben. Nordmann war leicht hinters Licht zu führen. Sie hatten sich eine halbe Ewigkeit nicht gesehen. Der schwierigste Part war Florenz List gewesen. Der Richter verfügte über ein enorm gutes Personengedächtnis. Ein Jammer, dass er dieses Talent in seinem Beruf nicht mehr richtig einsetzen konnte.
    Leons Blick fiel auf die Tüte, die er gestern Abend aus dem Versteck geholt hatte. Auf den verfallenen Schuppen an den Bahngleisen war niemand gekommen. Er musste die Sachen im Laufe des Tages verschwinden lassen, für alle Fälle. Es durften nicht die geringsten Beweise gefunden werden. Leon breitete mehrere Lagen Zeitungspapier vor sich aus. Anschließend kippte er den Inhalt der Tüte darauf aus. Dick in Papier gewickelt, mit Benzin übergossen und verbrannt dürften keine verwertbaren Spuren übrig bleiben. Bevor er das Papier einschlug, betrachtete er noch einmal die Utensilien. Das Heft mit den Aufzeichnungen hatte er bereits vorher zur Seite geräumt. Leon entnahm einem kleinen Plastikbehälter die dunklen Kontaktlinsen und hielt sie gegen das Licht der Deckenlampe. Dunkelbraun, fast derselbe Braunton der Augen seines Bruders. Leon warf sie in die Toilette und zog ab. Unterwegs holte er sich ein Glas Mineralwasser aus der Küche. Die vergrößerten Fotos zerriss er vorsichtshalber. Es tat ihm ein wenig leid um die gute Kamera mit dem sündhaft teuren Teleobjektiv, deren kurzes Dasein im Ofen irgendeiner Müllverbrennungsanlage beendet worden war. Er hatte sie sich vom Mund absparen müssen. Aber er brauchte aktuelle Bilder, wollte er so aussehen wie Ulrich. Noch einmal hielt er die Dose mit der Aufschrift ›Nose Putty‹ in den Händen. Die Beschaffung war leicht, für den richtigen Umgang hatte er Wochen und mehrere Dosen benötigt. Schließlich war es ihm gelungen, mit der hautfarbenen Wachsmasse aus dem Zubehörhandel für Maskenbildner ein täuschend echt wirkendes Muttermal exakt an die Stelle zu modellieren, an der es sein Bruder trug. Kleine Tränensäckchen und ein hellerer Teint waren danach ein Leichtes gewesen. Das größte Problem war die Stimme, dafür gab es weder Puder noch Wachs. Stundenlang hatte er es geübt, jeden Abend, trotzdem hatte der Richter Verdacht geschöpft.
    Er hatte Ulrich dafür genau die Sätze sagen lassen, die er später verwenden wollte, jedenfalls einen Teil davon. Immer wieder hatte er sich das Band angehört, versucht, die Stimme zu imitieren, bis er geglaubt hatte, es sei perfekt. Der Besuch bei seinem Bruder fiel ihm ein. Der schwierigste Part am gesamten Plan. Mit ihm hatte er sich nicht in irgendeinem Café oder Bistro verabreden können, um ihm das Pulver ins Getränk zu mischen. Zweimal hatte er in dessen Haus einbrechen müssen. Zum Glück vergaß Ulrich in seinem Suff ständig, die Fenster und Türen zu schließen, wenn er das Haus verließ. Ein weiterer Vorteil hatte darin bestanden, dass Ulrich nicht nur täglich Unmengen trank, sondern auch immer einen Notvorrat im Hause hatte. Es stellte für ihn kein Problem dar, mit einer Einwegspritze den billigen Chardonnay durch den Korken abzusaugen und eine verringerte Menge des Weines, vermischt mit dem weißen Pulver, wieder nachzufüllen. Auf diese Weise war auch eine genaue Dosierung möglich gewesen. Beinahe hätte er den Calvados auf dem Küchenregal vergessen gehabt. Für dessen Dosierung hatte er den Inhalt zunächst in einen Messbecher umfüllen müssen.
    Nach vier Stunden Wartezeit hinter der Haselnusshecke neben dem Haus mit dem wunderbaren Blick durch Küchen- und Wohnzimmerfenster war es dann soweit gewesen.
    Ulrich hatte ihn nicht erkannt, als er das Haus betreten hatte. Dafür kam er bereitwillig jeder seiner Anweisungen nach. Hinterher war es ein Leichtes gewesen, die Medikamentenpackung sowie die Messer mit Ulrichs Fingerabdrücken im Schuppen zu deponieren.
    Leon Bartram schlug die Utensilien in das Zeitungspapier ein und verstaute alles in eine Papiertüte des Obsthändlers an der Ecke. Beinahe hätte er das Wichtigste vergessen: Die Liste seines Bruders mit den Ergebnissen der Observierung. Als er sie fand, hatte er sich reflexartig an den Kopf gefasst. Unbewusst hatte sein Bruder für das genialste Detail in seinem Plan gesorgt. Vor zwei Tagen war er noch einmal in dessen Haus eingedrungen, um die Listen zu tauschen. Ein riskantes Spiel. Er hoffte, dass sein Bruder die Veränderungen im Detail
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