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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood
Autoren: Colin Meloy
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seinen Krallen auf dem Geländer des Balkons, um eine bequemere Stellung zu finden.
    »Fast fertig«, erwiderte Prue, setzte die Spitze des Stifts wieder aufs Papier und zeichnete einen rostroten Streifen. Die Schwanzfedern des Vogels waren vollendet. »So«, sagte sie. Dann legte sie den Stift auf dem Steingeländer ab und hielt den Block auf Armeslänge von sich, sodass die körnigen Details der Buntstiftzeichnung verschmolzen und die gestreifte Gestalt der Singammer bildeten.
    Enver löste sich endlich aus seiner starren Haltung und kam angehüpft, um sich das Ergebnis anzusehen. »Sehr hübsch«, urteilte er. Prue schrieb seinen Namen in Großbuchstaben unter das Bild, und darunter in ihrer besten Schönschrift die Worte Melospiza melodia .
    »Singammer«, erklärte sie.
    Enver zwitscherte anerkennend.
    »Es ist natürlich nicht so gut wie das Bild von Mr. Sibley«, wandte Prue ein. »Dabei hatte er noch nicht einmal den Vorteil, mit seinen Motiven sprechen zu können. Aber es ist schon okay.«
    Enver wurde langsam kribbelig, er musste sich endlich wieder bewegen. Also sprang er in die Luft und kreiste über den zwei Erkertürmen der Villa. Prue sah ihm nach, als er in den schwarzgrauen Himmel davonsegelte.
    Eine dichte Baumsilhouette markierte den Horizont unterhalb der schwindelerregenden Flugbahn des Vogels: goldgelbe Ahorne
und tiefgrüne Tannen. Jenseits dieses Schleiers lag, wie Prue wusste, Portland. Ihr Zuhause. Aus dieser Perspektive hier, dachte sie, erschien Portland als das seltsame, magische Land – nicht der Ort, an dem sie sich gerade befand, mit seinen stattlichen Wäldern aus hohen Bäumen und seiner fleißigen Bevölkerung, die im Einklang mit ihrer Umwelt ihren Geschäften nachging. Das Straßennetz von Portland, vollgestopft mit Autos und Lastwagen, all der Beton, das ganze Metall: Diese Dinge kamen Prue jetzt fremdartig vor.
    Schließlich riss sie sich aus ihren Gedanken; vor ihr lag noch eine lange Fahrt. Sie schloss den Skizzenblock, sammelte die Buntstifte zusammen und stopfte sich alles so gut es ging in die Kängurutasche ihres frisch gewaschenen Kapuzenpullis. Es war kühl; der Herbst war jetzt endgültig da. Überall roch es danach.
    Hinter ihr ging eine Tür auf, und als Prue sich umdrehte, sah sie Uhu Rex und Brendan ins Gespräch vertieft aus dem Wohnzimmer kommen. Brendans Arm lag in einer engen Schlinge an seiner Brust, doch er konnte sich offenbar ohne Schwierigkeiten bewegen. Am Vortag hatte es ein ziemliches Theater gegeben, als die Pflegerinnen der Villa darauf bestanden, dass er ein Bad nahm; sein lautstarker Protest hallte durch die Flure. Frisch geschrubbt und mit gewaschenen Kleidern war er kaum noch als der Spitzbube zu erkennen gewesen, dem sie im Wald begegnet war.
    »Wie geht’s da drin voran?«, fragte sie, als die beiden ans Geländer des Balkons traten.

    »Es besteht wenig Zweifel, dass es ein langer und schwieriger Prozess werden wird«, erzählte der Uhu. »So viele Tierarten wurden durch Sviks Gesetzeswerk unterdrückt; es gibt viel wiedergutzumachen. Heute werden die Abgesandten der Kojoten erwartet, und um ihre Teilnahme an den Verhandlungen wird bestimmt ein Streit entbrennen. Schon jetzt sind die Räuber und die Bauern aus Nordwald uneins, und darüber hinaus haben einige meiner Vogeluntertanen demonstrativ den Saal verlassen, als es um die Entschädigung für die Familien der Verhafteten ging. Glücklicherweise traf das Mittagessen heute etwas früher ein, und so hat sie die Verheißung frischer Pinienkerne schließlich zurück an den Tisch gebracht.«
    Er seufzte. »Eines ist gewiss: Keine Regierungsbildung ist jemals einfach. Doch trotz all der kleinen Unstimmigkeiten liegt etwas Bemerkenswertes in der Luft; das Gefühl, dass wir rechtzeitig eine Lösung finden werden, eine Lösung, welche die Rechte und Bedürfnisse aller Bewohner des Waldes berücksichtigt.«
    Brendan massierte den Verband an seiner Schulter. »Ja, das ist keine leichte Sache«, sagte er. »Aber je eher wir eine Übereinkunft erreichen, desto besser. All diese Pflastersteine hier tun mir an den Füßen weh. Ich kann es kaum erwarten, zurück in den Wald, in unser Versteck zu meinen Leuten zu kommen.«
    »Ich bin sicher, dass alles klappen wird«, sagte Prue. »Ihr seid doch ziemlich klug.«

    »Es gäbe auch Platz für dich«, warf der Uhu mit hochgezogener Augenbraue ein. »Eine diplomatische Vertretung vielleicht. Botschafterin bei den Mystikern? Wie würde dir der Titel
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