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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz
Autoren: Leonie Britt Harper
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Arbeitsplatz gehofft hatten, inzwischen weitergezogen waren. Vermutlich zu dem Brückenbau, den man östlich von hier in Angriff genommen hatte. Von diesem weiteren Bauprojekt hatten sie und ihre Mutter auf der Straße gehört.
    »Das muss dort drüben der Ganger sein«, flüsterte ihre Mutter, als sie sich Steinbruch und Bauplatz näherten. Verstohlen deutete sie dabei auf einen Mann oben am Rand der Böschung, der im Schutz einer nach vorn offenen Bretterhütte hinter einem Tisch saß. »Das ist bestimmt der Mann, der hier das Sagen hat. Mit ihm müssen wir reden!«
    Ganger war die gebräuchliche Bezeichnung für den obersten Aufseher, dem die Überwachung der Arbeit eines Bauprojektes vor Ort unterstand und der den Lohn auszahlte. Die Ganger waren den Berichten nach raue hartherzige Kerle, denen das tägliche Elend längst keinen Funken Mitgefühl mehr entlockte. Und der Ganger dieses Bauprojektes, ein bullig gebauter Mann mit dem plattnasigen Gesicht eines Boxerhundes, schien keine Ausnahme zu sein.
    Einer seiner Unteraufseher hatte soeben einen Mann, kaum mehr als ein mit Lumpen behangenes Skelett, vor den Tisch seines Vorgesetzen gezerrt. Auf Knien beschwor er den Ganger, ihn nicht aus seinem Lohnbuch zu streichen.
    »Gebt mir noch eine Chance, Mr Nicholson!«, flehte er ihn mit trockenem Schluchzen an. »Morgen wird es mir nicht wieder passieren. Ihr habt mein Wort! Denkt an meine beiden kleinen Kinder, die letzten, die mir geblieben sind. Drei andere und meine Frau habe ich schon zu Grabe getragen. Lasst mir die Arbeit, in Gottes heiligem Namen!«
    »Er hat mehr als genug Chancen gehabt. Und sein heiliger Papistengott zahlt ja wohl hier nicht die Löhne aus«, sagte der Unteraufseher zynisch über den Kopf des vor dem Tisch knienden Mannes hinweg. »In der letzten Stunde hat er die Schubkarre gleich dreimal umgekippt! Und das wird auch nicht besser mit ihm werden. Glaub mir, der Kerl ist erledigt, Arsenath.«
    Wortlos schlug der Ganger sein Lohnbuch auf, ließ sich den Namen des Mannes nennen, strich ihn mit einem kurzen, energischen Federstrich aus der langen Liste, notierte einen Lohnbetrag hinter dem Namen, knallte das ledergebundene Buch wieder zu und warf dem Mann seinen restlichen Lohn vor die Füße. Bei all dem kam ihm nicht ein einziges Wort über die Lippen. Kein Muskel regte sich in seinem harten Gesicht.
    »Éanna«, raunte Catherine. »Halte dich ja aufrecht, und mach ein freundliches Gesicht, wenn wir uns dem Ganger nähern. Du musst lächeln, hörst du? Zeige bloß nicht, dass du müde bist! Der Ganger soll sehen, dass wir schon lange das können, was die anderen leisten müssen!«
    »Ja, Mutter«, murmelte Éanna und bemühte sich um einen freundlichen Gesichtsausdruck.
    Doch wie schwer ihr das fiel! Der Hunger fraß wie eine tollwütige Ratte in ihr, und ihre Füße brannten von dem stundenlangen Marsch wie Feuer.
    Aber sie wusste, dass Catherine recht hatte. Die Arbeit im Steinbruch war die einzige Möglichkeit zu überleben. Und wenn ein Lächeln half, und sei es noch so aufgesetzt, dann musste sie sich eben dazu zwingen. Éanna straffte ihre Schultern und folgte ihrer Mutter zu dem Tisch des Gangers.
    »Was wollt ihr?«, fragte der Oberaufseher schroff. Argwohn und Ärger flammten in seinen Augen auf. Er hatte gerade nach einem knusprig gebackenen Brotlaib gegriffen, von dem noch drei Viertel übrig waren. Offensichtlich nahm er an, sie wollten ihn anbetteln. »Hier werden keine milden Gaben verteilt! Sucht euch gefälligst die nächste Suppenküche.«
    Catherine deutete eine steife Verbeugung an. »Nichts liegt uns ferner, als Euch anbetteln zu wollen, Mr Nicholson«, sagte sie höflich, aber auch mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Wir haben unseren Lebtag lang von unserer ehrlichen Hände Arbeit gelebt, und so wird es auch bleiben.«
    »So? Und was wollt ihr dann?«, brummte der Ganger, doch es klang nicht mehr ganz so harsch.
    Éanna schielte auf das Brot, das neben einer großen ovalen Blechdose lag. Das Behältnis enthielt sicherlich noch anderes Essen, das der Ganger mit zur Arbeitsstelle gebracht hatte. Hinter der Dose ragte der Stiel eines Blechlöffels hervor. Vielleicht hatte ihm seine Frau eine dicke Suppe bringen lassen, womöglich sogar mit Fleischstücken? Das Wasser lief Éanna im Mund zusammen, als sie sich ausmalte, was sich unter dem verschrammten Blech alles an Köstlichkeiten verbergen mochte. Sie schluckte mehrmals, doch ihre Kehle fühlte sich trocken und rau
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