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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz
Autoren: Leonie Britt Harper
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dickes Stück von seinem Brot gegeben!«
    Catherine nickte. Sie legte ihren Arm um sie und drückte sie an sich. »Du hat recht, Kind. Er mag ein rauer Klotz sein, aber das täuscht. Jetzt bin ich zuversichtlich, dass er uns morgen in sein Lohnbuch schreibt!« Sie klang regelrecht aufgedreht. »Wir werden nicht einfach nur namenlose Gesichter in der Menge sein, sondern Catherine Sullivan und ihre Tochter Éanna. Wir werden Arbeit haben, Éanna! Der Lohn wird reichen, um den ärgsten Hunger zu stillen. Vielleicht können wir ja sogar jeden Tag ein, zwei Pence zurücklegen, wenn wir das Geld umsichtig einteilen.« Sie lachte und weinte zugleich. »Ach, Éanna! Es wird noch alles gut!«
    »Du hast das auch sehr geschickt gemacht, Mutter«, lobte Éanna sie. Sie fühlte nach dem Brot unter ihrem Umhang, und es kam ihr vor, als ob damit alles anders geworden wäre. »Fast wie eine Dame bist du aufgetreten. Er hat es nicht zeigen wollen, aber bestimmt hat es Eindruck auf ihn gemacht.« Das mit der Dame mochte sehr an den Haaren herbeigezogen sein, so abgerissen wie sie aussahen. Aber was tat das zur Sache? Endlich gab es wieder Hoffnung!
    Éannas Mutter sah sich um. »Lass uns nach einem Unterschlupf für die Nacht Ausschau halten, bevor wir das Brot essen. Aber nicht gleich hier an der Landstraße. Da wird es sicher nichts mehr geben.«
    Wenig später bogen sie in einen Feldweg zu ihrer Linken ab und stießen im Dämmerlicht der hereinbrechenden Nacht schon bald auf einen Friedhof. Hinter dem hohen verwilderten Gebüsch fiel ihnen das halb eingefallene Dach eines winzigen, reetgedeckten Hauses ins Auge. Es musste sich um das ehemalige Wohnhaus der Friedshofswache handeln.
    »Es scheint verlassen zu sein«, rief Éanna und lief auf die Tür zu. »Genau das, was wir brauchen! Dann werden wir es morgens auch nicht allzu weit zum Steinbruch haben.«
    Und tatsächlich: Es drang weder Feuerschein durch die Bretterritzen nach draußen, noch stieg die Rauchfahne eines Torffeuers aus dem Stumpf des Giebelschornsteins. Die Schlagläden vor den beiden winzigen Fenstern waren wie die Tür geschlossen.
    »Warte, Éanna«, ermahnte Catherine sie. »Wir müssen erst sichergehen, ob das Haus wirklich aufgegeben ist.«
    Ungeduldig klopfte Éanna an die Tür, doch niemand antwortete.
    Endlich nickte Catherine zustimmend.
    Éanna wollte die Pforte aufdrücken, doch sie bewegte sich kaum von der Stelle. Etwas leistete von innen Widerstand. Ihre Mutter trat zu ihr, um zu helfen. Gemeinsam stemmten sie sich mit aller Kraft gegen das morsche Holz, und schließlich gab es widerstrebend nach.
    Im nächsten Augenblick sahen sie, warum sich die Tür so schwer hatte öffnen lassen. Denn genau davor lag ein Toter, ein Mann, der nur noch aus Haut und Knochen bestand. Weiter hinten im Raum zeichneten sich noch weitere Leichen ab, mindestens drei davon waren Kinder.
    Entsetzt fuhren sie zurück. Bei den Toten musste es sich um die Familie des Friedhofswächters handeln. Wie so viele andere, die in ihrer verzweifelten Hoffnungslosigkeit den Kampf ums Überleben aufgaben, hatten sie sich dafür entschieden, gemeinsam in ihrem Zuhause zu sterben, anstatt sich mit den vielen anderen auf den ziellosen Todesmarsch zu begeben, um dann irgendwo entlang der Landstraße in den Gräben liegen zu bleiben.
    Éanna und ihre Mutter bekreuzigten sich entsetzt, sprachen hastig ein Gebet für die Seelen der Toten und beeilten sich, diesen grausigen Ort hinter sich zu lassen.
    Doch noch ein gutes Stück weiter konnte Éanna ein Zittern nicht unterdrücken.
    »Warum lässt Gott all das Elend und das Sterben nur zu?«, fragte sie. Ihre Zuversicht war mit einem Mal verflogen.
    »Gott hat nichts damit zu schaffen, Éanna!«, sagte ihre Mutter bitter. »Es ist nicht Gott, der unser Land seit Jahrhunderten knechtet und ausplündert. Es sind Menschen aus Fleisch und Blut wie du und ich. Engländer! Es ist auch nicht Gott, der all das Getreide und das Vieh aus dem Land schafft und auf den Märkten in England teuer verkauft. Gott hat die Erde so geschaffen, dass sie für jeden genug zum Leben hervorbringt, wenn es nur gerecht unter den Menschen zugehen würde. Das größte Leid auf der Welt ist Menschenwerk! Vergiss das nie! Nichts als Menschenwerk.«
    Éanna nickte, doch mit einem Mal blieb sie stehen und zog Catherine am Ärmel. »Schau, Mutter«, raunte sie. Sie deutet auf das Ende des Grabens, an dem ihr Pfad vorbeiführte.
    Catherine schüttelte erst verständnislos den Kopf,
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