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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz
Autoren: Leonie Britt Harper
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sein.
    Éanna jedoch stiegen bei jedem Toten, auf den ihr Blick fiel, jedes Mal von Neuem die Tränen in die Augen. Insbesondere wenn es sich um kleine Kinder handelte. Viele lagen mit angezogenen Beinen und Armen scheinbar friedlich im Gras, als hätten sie sich nur für eine Weile schlafen gelegt und sich dafür schützend vor Wind und Wetter eingerollt.
    »Wohin wollen wir, Mutter?«, brach Éanna schließlich das Schweigen. Alles war besser, als wortlos der Landstraße zu folgen und nichts weiter zu tun zu haben, als die Leichenwagen vorbeirumpeln zu sehen.
    Ihre Mutter schien sich darüber Gedanken gemacht zu haben. Denn ihre Antwort kam unverzüglich, und wieder klang etwas von der alten Stärke in ihrer Stimme mit. »Nach Knockmoy Abbey. Ich habe gehört, dass hinter dem Kloster eine neue Straße gebaut werden soll«, sagte sie. »Vielleicht bekommen wir dort Arbeit.«
    Éanna warf einen kurzen Blick auf den Stand der Sonne. »Bis zum Kloster sind es bestimmt noch sechs, sieben Meilen«, wandte sie ein. »Wenn wir dort eintreffen, wird es schon fast dunkel sein. Und du weißt doch, man muss sich spätestens morgens um sechs bei diesen Arbeiten einfinden, wenn man auch nur eine Chance haben will, vom Aufseher für den Tag ausgewählt zu werden.«
    »Gerade deshalb ist es gut, wenn wir schon heute mit ihm sprechen«, erwiderte Catherine energisch. »So wird er uns leichter wiedererkennen, wenn wir morgen früh in der Menge stehen.«
    Éanna nickte. »Damit könntest du recht haben«, sagte sie, auch wenn sie insgeheim an den Worten ihrer Mutter zweifelte. Aber sie wollte die wiedergewonnene Entschlossenheit und Zuversicht ihrer Mutter nicht ins Wanken bringen. Dringender denn je zuvor brauchte sie Catherine – denn was es hieß, dass ihre Mutter sich selbst und Éanna aufgab, das hatte sie in jenem schrecklichen Moment erlebt, als Catherine davon gesprochen hatte, in der Hütte sterben zu wollen.
    Schweigend setzten sie ihren Weg nach Knockmoy Abbey fort – vorbei an den einheimischen irischen Polizisten, die mit finsteren Gesichtern die Schaf- und Rinderherden, fruchtbare Äcker und weite Getreidefelder bewachten.
    Éanna sah sie und ballte insgeheim die Fäuste. Sie wusste nur allzu gut, dass es in Irland nicht an Lebensmitteln fehlte. Die herrschende Klasse dachte nur nicht daran, sie auf den heimischen Märkten zu verkaufen, sondern verschiffte sie dorthin, wo sie den besten Preis erzielten. Woche für Woche transportierten Dutzende Frachtschiffe die reichen Erträge der Großgrundbesitzer nach England. Die Hungersnot der Landbevölkerung kümmerte die meisten wenig. Sie begrüßten vielmehr die angebliche Strafe Gottes, die nun endlich dafür sorgte, dass sich die Zahl von Irlands Katholiken endlich drastisch verringerte – durch Tod oder Auswanderung. Manche Großgrundbesitzer äußerten sogar in aller Öffentlichkeit, dass die Missernten und die Hungersnot »ein Segen für Irland« wären.
    Das Kloster und die Baustelle, der Éanna und ihre Mutter entgegenstrebten, gehörten zu den viel zu späten und nur halbherzigen Hilfsmaßnahmen des englischen Parlamentes, das nach langem Verzögern schließlich eine Reihe von öffentlichen Bauprojekten für Irlands hungernde Bevölkerung beschlossen hatte. Die Löhne waren trotz der knochenbrechenden Arbeit so karg bemessen, dass auch sie kaum zum Überleben einer Familie reichten.
    Je länger Éanna durch den Staub der Landstraße wanderte und je mehr Leidensgenossen sie begegnete, desto größer wurde ihr Zorn über die verhassten Engländer.
    Sie hatte nur wenige Monate eine der »Heckenschulen« besuchen dürfen – Unterricht im Freien, meist im Schutz einer Steinmauer oder einer Hecke –, aber den Lehrern war es bei schwerer Strafe verboten gewesen, die Kinder in irischer Geschichte und in ihrer eigenen gälischen Sprache zu unterrichten.
    Doch von ihrem Vater wusste Éanna, was es mit der englischen Herrschaft auf sich hatte – er hatte es ihr im Schutz der Kate erzählt, flüsternd.
    Es war Henry VII. gewesen, der im Jahre 1535 seinem Reich den evangelischen Glauben aufgezwungen hatte. 1690 brachen dann britische Truppen in der fürchterlichen Schlacht am Boyne River Irlands Widerstand endgültig. Seitdem standen die Iren in ihrem eigenen Land unter der harten Knute der sogenannten Penal Laws . Die vom britischen Parlament erlassenen »Strafgesetze« sollten verhindern, dass die Iren jemals wieder zu Einfluss und militärischer Macht gelangten und damit
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