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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz
Autoren: Leonie Britt Harper
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eurer Misere. Warum habt ihr all die Jahre diese elende Sorte angebaut, die doch nur als wässriges Pferdefutter taugt?«
    »Weil diese Kartoffeln eine größere Ernte abwerfen und sich länger in den Vorratsgruben und auf den Brettern unterm Dach halten, wie jeder Dummkopf weiß, wenn er nicht gerade Engländer ist!«, hätte Éanna ihm am liebsten zugerufen, doch sie biss sich auf die Lippen. Wozu Worte verlieren, die sie ebenso gut gegen eine Wand hätte sprechen können?
    »Aber so war es doch immer, Master!«, schluchzte ihre Mutter.
    »So war es immer! So war es immer!«, äffte Henry Burke sie verächtlich nach. »Nun, jetzt ist endlich Schluss mit euren stinkenden Pferdekartoffeln. Der Esquire will euch Lumpenpack, das ständig die Pacht schuldig bleibt, nicht länger auf seinem Land haben. Der Dreck wird untergepflügt, und dann entstehen hier Schafsweiden. Das wirft wenigstens etwas ab. Und jetzt verschwindet endlich!«
    Seine drei Gutsknechte herrschte er an: »Was steht ihr denn noch so faul herum? An die Arbeit, Männer! Aber ein bisschen flott! Na los, reißt die stinkende Hütte ein!«
    Einer der Knechte lenkte sein Pferd an die niedrige Kate heran und kletterte aus dem Sattel auf das Dach. Ein anderer warf ihm ein Seil mit einem dicken Eisenhaken am Ende zu. Der Mann auf der Kate riss die Reetabdeckung auf, legte den Haken um den obersten Dachbalken und kletterte wieder hinunter.
    Augenblicke später spannte sich das Seil unter der Zugkraft des Pferdes, und der Längsbalken brach an beiden Giebelseiten aus dem Mauerwerk aus Lehm und Astgeflecht. Er riss im Sturz das ganze Dach ein und nahm dabei auch gleich noch die Hälfte des Kamins mit. Die splitternden Latten und die Reetmatten der Abdeckung stürzten in den Innenraum und begruben unter sich, was einmal das Heim der Sullivans gewesen war. Staub, Dreck und Reet wirbelten auf.
    »Reißt auch die Wände ein, damit keiner von dem Gesindel auf die Idee kommt, sich hier heimlich verkriechen zu wollen!«, befahl der Verwalter.
    Mit dem hakenbewehrten Zugseil, Äxten und schweren Brechstangen rückten die drei Gutsknechte den Lehmmauern zu Leibe.
    Éanna schnürte es beim Anblick ihrer brutalen Zerstörungswut Herz und Kehle zu. »Komm, Mutter«, presste sie hervor und zog Catherine auf die Beine. Sie konnte nicht länger mit ansehen, wie die Knechte des Esquire ihr Zuhause einrissen. Hier war alles verloren.
    Tränen strömten ihrer Mutter über das ausgemergelte Gesicht.
    »Wo sollen wir denn hin? Was soll werden?«, weinte sie.
    »Psst, Mutter.« Éanna zog sie hoch. »Wir finden eine Lösung. Es gibt immer einen Weg, das hast du selbst vor nicht allzu langer Zeit gesagt.«
    Catherine sah sie in stummer Verzweiflung an, aber sie ließ sich von ihrer Tochter auf die Beine helfen, und gemeinsam kehrten sie ihrem Zuhause den Rücken.
    Der entsetzliche Laut des wegstürzenden Mauerwerks begleitete sie auf ihrem Weg hinunter ins Dorf.
    Seit einer Woche wütete Henry Burke mit seinen Männern auf den Ländereien des Esquire und jagte die Kleinpächter unbarmherzig auf die Straße. Und damit folgte er nur dem Beispiel vieler anderer Großgrundbesitzer, die auf ihrem Grund und Boden Massenräumungen befohlen hatten. Die ersten Dörfer in der Umgebung waren mittlerweile menschenleer. Wovon sollten die Handwerker und kleinen Krämer auch leben, wenn es rundherum keine Bauern mehr gab?
    Unten auf der Landstraße stießen Éanna und ihre Mutter auf die McDermotts und die Crowleys. Ein Mann, zwei Frauen und vier halbwüchsige Kinder, von denen der fünfzehnjährige Michael McDermott das älteste war. Sie alle waren von Hunger und Hoffnungslosigkeit gezeichnet. Unschlüssig standen sie auf der Straße und fragten sich, wohin es nun gehen sollte.
    Als Éanna den gleichaltrigen Michael sah, musste sie daran denken, was seine Mutter Sarah vor einem halben Jahr getan hatte.
    Als ihr Mann damals gestorben war, hatte Sarah McDermott in ihrer Verzweiflung ihrem gerade sechs Wochen alten Neugeborenen die Milch verwehrt und es damit dem Tod ausgeliefert. Was sie noch an Muttermilch hatte geben können, war fortan ausschließlich ihrem ältesten Sohn Michael zugute gekommen. Er musste dringender als jeder andere in ihrer Familie am Leben bleiben. Denn er allein hatte Arbeit als Steinbrecher bei einer der öffentlichen Arbeitsprogramme gefunden, die von der englischen Krone ins Leben gerufen worden waren. Wenn auch ihn der Hunger entkräftigte und er darüber seine Arbeit
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