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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz
Autoren: Leonie Britt Harper
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dennoch eine Stimme auf eine Meile Entfernung hören. Es war, als hielte das Land entsetzt den Atem an. Dann endlich löste sich der Nebel auf und gab den Blick frei auf die Katastrophe.
    Auf allen Feldern waren die Kartoffelpflanzen wie kraftlos zusammengefallen. Blätter und Stiele hatten sich schwarz verfärbt. Ein entsetzlicher Gestank von Fäulnis trieb mit dem weichenden Nebel über das Land. Er verkündete auch noch dem Ahnungslosesten, welch entsetzliches Unglück Irland heimgesucht hatte.
    Granny Kate erlebte den grauenvollen Winter und den großen Hunger nicht mehr. Als die erste und auch die zweite Ernte des Jahres 1845 überall nur schwarze, verfaulte Kartoffeln zutage brachte, lag sie schon in ihrem Grab auf dem Friedhof hinter der Dorfkirche. Ihr Tod bewahrte sie auch davor, die verfaulten Kartoffeln und kläglichen Ernten der nächsten beiden Jahre zu durchleiden. Und er ersparte ihr die Tragödie, mit ansehen zu müssen, wie ihr Schwiegersohn und vier ihrer Enkelkinder nacheinander der bitteren Hungersnot zum Opfer fielen und neben ihr an der Steinmauer zu ihrer letzten Ruhe gebettet wurden.

Erstes Kapitel
    Ein nur leicht bewölkter, sonniger Himmel warf sein mildes Septemberlicht über das Hinterland von Galway. Doch nicht ein Schimmer davon drang in die armselige Bauernkate der Sullivans. Die geschlossenen Schlagläden verdunkelten die beiden schmalen Fenster neben der Tür, die ebenfalls zugezogen war.
    Éanna wusste, dass es nichts nutzen würde, hier im Dunkeln zu sitzen und leise zu beten. Das Wunder, das sie herbeiflehten, würde nicht eintreten. Nichts konnte Henry Burke davon abhalten, sie die unerbittliche Härte des Herrn von Parkmore Manor spüren zu lassen. Er würde die Befehle, die er von Esquire Francis Bland Russell erhalten hatte, ohne das geringste Mitleid ausführen.
    »Lass uns noch einen Rosenkranz beten!«, sagte Éannas Mutter mit zitternder Stimme in der Dunkelheit. Es roch im Raum nach kaltem Rauch und Angst. Das Torffeuer war erloschen, die Glut erkaltet. So etwas war in ihrem Haus noch nie passiert. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Frau des Hauses darüber wachte, dass zu jeder Tages- oder Nachtzeit wenigstens Glut unter der Asche war. Wer in seinem Haus das Feuer erlöschen ließ, der taugte nicht als Ehefrau und Mutter und brachte Schande über den Familiennamen.
    »Es wird uns nichts helfen, Mutter«, wandte Éanna ein, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu. »Es wird geschehen, wie es schon so viele getroffen hat.«
    »Du darfst nie den Glauben verlieren, Éanna«, wies Catherine Sullivan sie mit brüchiger Stimme zurecht.
    Éanna schwieg und murmelte wie verlangt den Rosenkranz. Ihre Mutter war immer eine starke Frau gewesen. Vor keinem hatte sie den Blick gesenkt, weder vor Father Murphy noch vor Henry Burke und auch nicht vor dem Esquire. Sie mochte eine arme Pächtersfrau sein, aber ihren Stolz hatte sie sich nicht nehmen lassen. Und nie hatte sie das Feuer ausgehen lassen. Niemals!
    Éanna hatte ihre Mutter für all das bewundert, zu ihr aufgeschaut und sich schon als kleines Kind vorgenommen, so wie sie zu werden.
    Doch wie wenig war von dieser einstigen Stärke noch geblieben! Das Elend war nicht nur ihrem abgemagerten Körper anzusehen. Die Hoffnungslosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben, das in den letzten beiden Jahren so bestürzend schnell gealtert war. Seit der Vater vor zwei Monaten im Steinbruch verunglückt und bald darauf gestorben war, hatten Angst und die Gewissheit, vom Schicksal nun endgültig geschlagen zu sein, scheinbar das letzte Aufbegehren in ihr zum Verlöschen gebracht.
    Unten von der Biegung der Straße, wo die wenigen noch lebenden Familienmitglieder der McDermots und der Crowleys wohnten, drangen herrische Stimmen, die ohnmächtigen Flüche eines Mannes und das Klagen von Frauen gedämpft zu ihnen herauf.
    »Bitte für uns Sünder …«, murmelte Kate Sullivan.
    »Gleich werden sie bei uns sein«, sagte Éanna. Sie hob den Kopf. Lange würde es nicht dauern, was Henry Burke und seine Männer dort bei den Nachbarn im Auftrag des englischen Großgrundbesitzers zu tun hatten. »Lass uns gehen, Mutter!«
    Die magere Hand von Catherine Sullivan tastete in der Dunkelheit nach ihrer Tochter und hinderte sie am Aufstehen. »Nein! Du bleibst. Mit uns wird er Erbarmen haben. Die Crowleys haben noch ihren Vater.«
    Éanna lachte bitter auf. »Es geht dem Esquire doch nicht darum, bei welchen Pächtern der Mann noch lebt«,
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