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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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verbrachte, weiß ich nicht.
    Ihr Leben als Aushilfskorrektorin in dem Verlag war noch durchschnittlicher. An drei Tagen der Woche ging sie in die Firma im zweiten Stock eines kleinen Gebäudes in Kanda und korrigierte von morgens neun bis abends fünf Druckfahnen, machte Tee oder stieg die Treppen hinunter (einen Aufzug gab es nämlich nicht), um Radiergummis oder Ähnliches zu kaufen. Sie war zwar die einzige junge, unverheiratete Frau dort, aber niemand machte ihr je Avancen. Sie konnte je nach Ort und Zeit ihren Glanz entfalten oder unterdrücken, ganz wie ein Chamäleon.
    * * *
    Ich begegnete ihr (beziehungsweise ihren Ohren) Anfang August, kurz nachdem meine Frau und ich uns getrennt hatten. Ich hatte gerade über eine Werbeagentur einen Auftrag für eine Software-Firma bekommen, da traf ich zum ersten Mal auf ihre Ohren.
    Der Direktor der Agentur legte den Werbeplan und einige große Schwarzweißaufnahmen auf den Schreibtisch und sagte, ich solle dafür innerhalb einer Woche drei verschiedene Schlagzeilen vorbereiten. Alle drei Fotos zeigten riesige Ohren.
    Ohren?
    »Warum Ohren?«, fragte ich.
    »Was weiß ich! Es sind nun mal Ohren. Sie haben nichts weiter zu tun, als eine Woche über Ohren nachzudenken!«
    Also verbrachte ich eine Woche damit, auf die drei Fotos mit den Ohren zu starren. Ich hatte die riesigen Aufnahmen mit Tesafilm an die Wand vor meinem Schreibtisch geklebt, und beim Rauchen, beim Kaffeetrinken, beim Sandwichessen und beim Nägelschneiden sah ich sie an.
    Eine Woche später hatte ich den Auftrag irgendwie erledigt, aber die Fotos blieben weiter an der Wand. Einerseits, weil ich zu faul war, sie abzunehmen, andererseits, weil es mir zur Gewohnheit geworden war, die Fotos mit den Ohren vor mir zu sehen. Aber eigentlich nahm ich sie deshalb nicht ab und ließ sie deshalb nicht in einer Schublade verschwinden, weil die Ohren mich in verschiedenster Weise bezaubert hatten. Diese Ohren waren ein Traum! Hundertprozentige Ohren – und das ist wahrlich nicht übertrieben. Es war das erste Mal, dass mich ein vergrößerter Teil des menschlichen Körpers (die Geschlechtsorgane selbstverständlich eingeschlossen) derartig stark faszinierte. Sie ließen mich unweigerlich an riesige Strudel des Schicksals denken.
    Eine Windung kreuzte mit schier unvorstellbarer Kühnheit die ganze Fläche des Bildes, eine andere schuf mit geheimnisvoller Sorgfalt kleine Schattierungen, und wieder eine andere erzählte die zahllosen Legenden eines antiken Wandgemäldes. Die Ebenheit der Ohrläppchen übertraf noch den Schwung der Windungen, und vor der üppigen Fülle ihres Fleisches verblasste alles Leben.
    Einige Tage später beschloss ich, den Fotografen anzurufen, der die Bilder gemacht hatte, um mir Namen und Telefonnummer der Ohrenbesitzerin geben zu lassen.
    »Wozu?«, fragte der Fotograf.
    »Interessiert mich einfach. Sind halt tolle Ohren.«
    »Die Ohren schon, das stimmt«, brummte der Fotograf. »Aber die Frau haut einen nicht gerade vom Hocker. Es gibt bessere – zum Beispiel das Bikinimodell, das ich vor kurzem vor der Linse hatte. Ich könnte da was arrangieren.«
    »Nein, danke«, sagte ich und legte auf.
    * * *
    Ich rief sie um zwei, um sechs und um zehn Uhr an, aber niemand meldete sich. Sie schien ein geschäftiges Leben zu führen.
    Am nächsten Morgen um zehn erwischte ich sie endlich. Ich stellte mich knapp vor und erzählte ihr dann, ich müsse kurz mit ihr über die Werbefotos sprechen, die sie kürzlich gemacht hätte, ob wir nicht mal gemeinsam zu Abend essen könnten.
    »Man sagte mir, die Arbeit sei für mich erledigt«, sagte sie.
    »Ja, ist sie auch«, sagte ich. Sie schien etwas überrascht zu sein, fragte aber nicht weiter. Wir verabredeten uns für den nächsten Abend in einem Café auf der Aoyamadori.
    Ich rief das beste französische Restaurant an, das ich je besucht hatte, und bestellte einen Tisch. Dann schlüpfte ich in ein neues Hemd, verwandte viel Zeit darauf, eine Krawatte auszuwählen, und zog einen Anzug an, den ich erst zweimal getragen hatte.
    Wie der Fotograf vorgewarnt hatte, haute sie einen wirklich nicht gerade vom Hocker. Durchschnittliche Kleidung, durchschnittliches Gesicht – sie sah aus wie eine Chorsängerin einer zweitklassigen Frauenuniversität. Aber das war mir natürlich völlig gleich. Was mich enttäuschte, war, dass sie ihre Ohren unter den glatt herabhängenden Haaren völlig verborgen hielt.
    »Sie verbergen ja Ihre Ohren«, bemerkte ich
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