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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat
Autoren: Octavia Butler
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lange hatte sie es aufgegeben, danach zu suchen. Sie hatte ihre Einsamkeit und Einzigartigkeit angenommen. Doch nun …
    »Sprich weiter«, sagte sie. »Du hast mir vieles zu s a gen.«
    Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Er hatte ihr ins Gesicht gesehen mit einer Neugier, die die meisten Menschen vor ihr zu verbergen suchten. Die Leute sagten, ihre Augen glichen denen eines Kindes – das Weiße der Augäpfel sei zu weiß und das Dunkel der Pupille zu du n kel und zu klar. Kein Erwac h sener und gewiß keine alte Frau habe solche Augen. Und sie mieden ihren Blick. Doros Augen dagegen ha t ten nichts Besonderes, aber er schaute sie an, wie es Kinder tun. Er kannte keine Furcht und wohl auch keine Scham.
    Es erschreckte sie, als er ihre Hand nahm und sie neben sich auf den Baumstamm zog. Sie hä t te seinen Griff mit Leichtigkeit abschütteln kö n nen, aber sie tat es nicht. »Ich habe heute einen sehr weiten Weg zurückgelegt«, bericht e te er. »Dieser Körper braucht Ruhe, wenn er mir noch we i ter dienen soll.«
    Sie dachte über seine Worte nach. Dieser Körper braucht Ruhe. Welch ungewohnte Art zu spr e chen er hatte!
    »Das letzte Mal war ich vor etwa dreihundert Jahren in di e ser Gegend«, fuhr er fort. »Ich war auf der Suche nach einer Gruppe meines Volkes, die sich ve r irrt hatte. Aber sie wurden getötet, bevor ich sie fand. Dein Volk lebte damals noch nicht hier, und du warst zu dieser Zeit noch nicht geb o ren. Ich weiß das, weil deine Andersartigkeit mich d a mals nicht rief. Ich glaube jedoch, meine Leute haben sich wä h rend der kurzen Zeit ihres Aufenthalts mit den damaligen Bewohnern ve r mischt. Und du bist die Frucht dieser Verbi n dung.«
    »Du willst damit sagen, die Menschen deines Volkes seien meine Vorfahren?«
    »Ja.« Er blickte sie forschend an, so als suche er nach einer Ähnlichkeit zwischen ihr und sich selbst. Er würde sie nicht finden. Das Gesicht, das sie trug, war nicht ihr wirkl i ches Gesicht.
    »Dein Volk hat den Niger überschritten.« Er zögerte, krauste die Stirn und nannte den Fluß bei seinem richtigen Namen: »Den Orumili. Als ich sie das letzte Mal sah, le b ten sie auf der anderen Seite in B e nin.«
    »Aber das geschah vor langer Zeit«, gab sie zur An t wort. »Die Kinder, die damals geboren wurden, sind inzw i schen Greise oder schon gesto r ben. Es waren die Dörfer Ado und Idu, die vor der Überquerung von Benin geknec h tet wu r den. Dann erhoben wir uns gegen die Unterdrücker, übe r schritten den Fluß und eroberten Omitsha. Wir wollten endlich frei sein, unsere eigenen Herren.«
    »Und was geschah mit dem Volk der Oze, die vor euch hier lebten?«
    »Einige flohen, die Zurückgebliebenen wurden unsere Sklaven.«
    »Ihr machtet also das gleiche mit ihnen wie Benin mit euch. Ihr habt die Menschen aus ihrer Stadt vertrieben – oder sie zu euren Sklaven gemacht.«
    Anyanwu blickte zur Seite. Ihre Stimme klang ve r stockt. »Es ist besser, der Herr zu sein als der Sklave!« Dieser Satz stammte von ihrem Eh e mann zur Zeit des Auszugs. Er war ein großer Mann geworden – Herr eines riesigen Hausw e sens mit vielen Frauen, Kindern und Sklaven. Anyanwu kannte jedoch auch die andere Seite. Zweimal in ihrem L e ben war sie selbst eine Sklavin gewesen. Sie konnte diesem Zustand nur entfliehen, indem sie ihre Identität wec h selte und in einer anderen Stadt einen neuen Eh e mann fand. Sie wußte, die einen waren die Herren, die anderen die Skl a ven. Es war immer so gewesen unter den Menschen. Aber ihre eigene Erfahrung hatte sie gelehrt, die Sklaverei zu ha s sen. Es war ihr damals sogar schwergefallen, eine gute Ehefrau zu sein, denn eine Ehefrau mußte stets den Nacken be u gen und sich dem Mann unterwerfen. Ihr jetziges Leben als Priesterin gefiel ihr. Sie verkündete den Me n schen den Willen der Gottheit. Man fürchtete sie und gehorchte ihr. Auf diese Weise war sie selbst eine Herrin geworden. »Manchmal ist es no t wendig über andere zu herrschen, wenn man verhindern will, daß man selbst zum Sklaven wird«, erwiderte sie leise.
    »Ja«, stimmte er zu.
    Anyanwu zwang sich, ihre Aufmerksamkeit den Dingen zuzuwenden, die er mit seinen Worten b e rührt hatte. Ihrem Alter zum Beispiel. Er hatte recht. Sie war etwa dreihu n dert Jahre alt – etwas, das niemand aus ihrem Volk geglaubt h a ben würde. Und noch etwas anderes hatte er g e sagt – etwas, das früheste Kindheitserinnerungen in ihr wachgerufen ha t te. Hier und da hatte sie als junges
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