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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat
Autoren: Octavia Butler
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kann ich dich verstehen«, erklärte sie. »Ich eri n nere mich wieder. Es ist’ lange her, seit ich deine Sprache zum letztenmal gesprochen h a be.« Er kam näher und sah sie forschend an. Schließlich lächelte er und schüttelte den Kopf. »Du bist nicht nur eine alte Frau«, stellte er fest. »Vielleicht bist du auch überhaupt noch nicht alt.«
    Überrascht wich sie einen Schritt zurück. Wieso wußte er über ihr Alter Bescheid! Ohne sie zu ke n nen! Ohne mehr von ihr zu wissen als das, was er sah, und das, was er g e hört hatte! »Ich bin alt«, w i dersprach sie voller Zorn, hinter dem sich ihre Furcht verbarg. »Ich könnte die Mutter deiner Mu t ter sein.« Sie hätte noch weiter in die Vergange n heit gehen können, doch sie schwieg. »Wer bist du?« fragte sie.
    »Ich könnte der Vater deiner Mutter sein!« antwortete er.
    Sie wich einen weiteren Schritt zurück, aber es gelang ihr, die wachsende Furcht unter Kontrolle zu bringen. Di e ser Mann war nicht das, was er nach außen hin zu sein schien. Man hätte seine Worte als scherzhaft gemeinten Unsinn auffassen können. Statt dessen versteckte sich hi n ter ihnen eine Wahrheit, so bedeutend oder unbedeutend wie die Wahrheit hinter ihren eigenen Worten.
    »Bleib stehen!« sagte er. »Ich will dir nichts tun!«
    »Wer bist du?« wiederholte sie ihre Frage.
    »Doro.«
    »Doro?« Ihre Lippen formten die unbekannten Silben ein zweites Mal.
    »Ist das ein Name?«
    »Es ist mein Name. In der Sprache meines Volkes b e zeichnet er den Osten, die Himmelsrichtung, in der die Sonne aufgeht.«
    Sie bedeckte mit einer Hand ihr Gesicht. »Das ist eine List«, sagte sie. »Jemand macht sich lustig über mich.«
    »Das solltest du besser wissen. Wann ist es j e mand das letzte Mal gelungen, dich zu überlisten und dir Angst ei n zuflößen?«
    Soweit sie sich erinnern konnte, seit vielen Ja h ren nicht mehr. Er hatte recht. Aber die Namen! Ihre Übereinsti m mung war wie ein Omen. »Weißt du, wer ich bin?« wollte sie wissen. »Bist du absichtlich hergekommen, oder …«
    »Ich bin wegen dir hier. Ich wußte nichts von dir, nur daß du etwas Außergewöhnliches bist und daß ich dich hier finden würde. Das B e wußtsein von deiner Existenz ließ mich ein gr o ßes Stück von meinem Weg abweichen.«
    »Bewußtsein?«
    »Ich hatte eine Ahnung … Außergewöhnliche Me n schen wie du ziehen mich an. Sie rufen mich, sogar über eine große Entfernung hi n weg.«
    »Ich habe dich nicht gerufen.«
    »Du bist da, und du bist anders. Das genügt, mich anz u ziehen. Und nun sag mir, wer du bist!«
    »Du mußt der einzige Mann in diesem Land sein, der noch nicht von mir gehört hat. Ich bin Anyanwu.«
    Er wiederholte ihren Namen und blickte zum Himmel. Er hatte verstanden.
    Ihr Name bedeutete Sonne. Er nickte.
    »Unsere Völker lebten vor langer Zeit und durch große Entfernungen voneinander getrennt, Anyanwu, und de n noch gaben sie uns die richt i gen Namen.«
    »Als sei es unsere Bestimmung, einander zu begegnen. D o ro, wer ist dein Volk?«
    »Zu meiner Zeit nannte man sie die Kush. Ihr Land liegt tief im Osten. Ich wurde bei ihnen geboren. Aber sie sind schon lange nicht mehr mein Volk. Seit ich sie das letzte Mal sah, ist sehr viel Zeit ve r gangen. Ja, es ist lange her. Vielleicht zwölfmal so lang, wie dein Leben währt. Jetzt sind die mein Volk, die mir ihre Treue geben.«
    »Und du glaubst, mein Alter zu kennen«, sagte sie. »Nicht einmal mein eigenes Volk weiß die Zahl meiner Jahre.«
    »Du bist zweifellos von Stadt zu Stadt gezogen, damit sie es vergessen sollten.« Er blickte in die Ru n de, sah einen umgestürzten Baum in der Nähe. Er ging darauf zu und setzte sich. Anyanwu folgte ihm fast gegen ihren Willen. So sehr dieser Mann sie verwirrte und ihr Angst einflößte, so sehr faszinierte er sie. Schon lange war es her, daß sich in ihrem Leben etwas erei g nete, das neu für sie war, das sich nicht schon viele Male zuvor ereignet hatte. Wieder sprach er.
    »Ich tue nichts, um mein Alter zu verheiml i chen«, sagte er. »Doch viele meiner Leute sind zu der Einsicht geko m men, daß es angenehmer ist, mein Alter zu vergessen. Denn sie können mich weder töten noch werden, was ich bin.«
    Sie trat näher und schaute auf ihn nieder. Es war ganz offensichtlich, daß er ihr klarmachen wol l te, wie ähnlich sie einander waren. Sie glichen sich durch ihr Alter und ihre Macht. In ihrem ganzen Leben war sie nie einem Me n schen b e gegnet, der so war wie sie. Schon
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