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Wild und frei

Wild und frei

Titel: Wild und frei
Autoren: Elizabeth Lane
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Schiff bekommen hatte, musste er all seine Willenskraft aufbieten, um nicht den ganzen Krug in einem Zug zu leeren. Selbst jetzt verlangte seine ausgedörrte Kehle nach mehr. Aber er konnte dem Durst nicht nachgeben. Woher sollte er denn wissen, wie lange das Wasser reichen musste?
    Er atmete erschöpft aus und lehnte sich zurück gegen die Wand, schloss die Augen und versuchte, sich auszuruhen. Um sich von den Schmerzen seines geschundenen Körpers abzulenken, dachte er an Lenapehoken, seine Heimat, mit ihren tiefen Wäldern und klaren Flüssen, und er dachte an seine Kinder. Er stellte sich vor, wie Swift Arrow auf einem moosbewachsenen Waldpfad auf ihn zugelaufen kam, sein kleines braunes Gesicht strahlend und unbekümmert. Er sah Singing Bird vor sich, wie sie am Feuer kniete, den Blick gesenkt, ihre jungen Gesichtszüge – noch nicht voll ausgeprägt, aber die zukünftige Schönheit schon erkennbar – sanft in dem goldenen Licht. Er würde zu ihnen zurückkehren, gelobte er. Koste es, was es wolle, wenn sie noch am Leben wären, würde er sie finden. Er wollte sie in seine Arme schließen, und sie drei wären wieder eine Familie.
    Koste es, was es wolle …
    Rowena lag auf dem Bett, das Haar in einem wilden Durcheinander ausgebreitet auf dem Kissen. Es war Mitternacht, und über ihr schien der Mond durch die bleiverglasten Fensterscheiben. Sie hatte sich schon seit Stunden herumgewälzt, von der einen auf die andere Seite, und versucht, sich zum Schlafen zu zwingen. Aber es hatte nichts genützt. Ihr Körper war müde, aber ihr aufgewühlter Geist wollte ihr keinen Frieden gönnen.
    Enttäuscht setzte sie sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und strich sich die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht. In ihrer Kammer, die sie immer wegen der dunstigen Nachtluft geschlossen hielt, war es warm und stickig. Rowena zögerte, stand dann aber auf und ging zum Fenster. Zum Teufel mit dem Dunst. Sie brauchte frische Luft!
    Sie riss das Fenster auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ den Seewind über Gesicht und Körper streichen. Unter ihrem Hemd trug sie nichts, und sie spürte die Kühle durch das weiche, zarte Leinen so deutlich wie ein Streicheln. Die Mondsichel leuchtete wie ein Sarazenenschwert vor dem Hintergrund des dunklen Himmels. Da waren das Rauschen und Raunen der Wellen, die sich an den Felsen am Fuß des Kliffs brachen.
    Rowenas Gedanken kehrten wieder zu dem Wilden,
ihrem
Wilden zurück, der ohne Licht, Luft und Wärme eingesperrt war. Sie erinnerte sich an seine Augen, die Qual, die sie flüchtig unter der Glut des Hasses gesehen hatte.
    Welche Pein musste er dort unten allein in der Dunkelheit ertragen? Litt er Hunger? War er womöglich verletzt, lag vielleicht sogar im Sterben? Würde sie es schaffen, der Vernunft zu gehorchen und ihr Herz vor seinen Nöten zu verschließen?
    Oder war es bereits zu spät?
    Zitternd schloss sie das Fenster und schob den Riegel vor. Sie beobachtete sich dabei, wie sie, fast ohne es zu wollen, zu ihrem Kleiderschrank ging und den leichten wollenen Morgenmantel von dem Haken an der Tür nahm. Eine durchdringende Stimme in ihrem Hinterkopf ermahnte sie, sich nicht auf ein solch wahnsinniges Vorhaben einzulassen, womit sie nur den Zorn ihres Vaters heraufbeschwören und ihre eigene Sicherheit gefährden würde. Rowena achtete nicht darauf. Wie konnte sie sich denn in ihrem weichen warmen Bett ausruhen, wenn unter demselben Dach ein Mitmensch leiden musste?
    Entschlossen nahm sie einen mit Wolle ausgestopften Quilt vom Fußende ihres Bettes. Dann huschte sie quer durch den Raum und öffnete die Tür zur Diele. Sir Christopher würde sie ausschimpfen, so viel war sicher. Aber mit solchen Widrigkeiten würde sie sich morgen beschäftigen.
    Im Haus war alles dunkel, doch Rowena kannte jeden Astknoten des kühlen Holzfußbodens, jede Stufe auf der langen Treppe, die in einem Bogen hinunter zur Großen Halle führte. Die Binsen raschelten unter ihren Fußsohlen, als sie um den Tisch herumging und in die Küche eilte. Die oberen Stockwerke des Hauses kannte sie in- und auswendig, aber nicht den Keller, dessen Dunkelheit so undurchdringlich war wie der feuchte schwarze Schacht eines Bergwerkes. Sie würde Licht brauchen, um sich zurechtzufinden.
    Vorsichtig tastete sie in dem Durcheinander herum und fand eine Kerze, die sie an den Kohlen des Herdfeuers anzündete. Das Licht leuchtete unheimlich in der höhlenartigen Küche, flackerte über rußgeschwärzte eiserne
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