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Wigges Tauschrausch

Wigges Tauschrausch

Titel: Wigges Tauschrausch
Autoren: Michael Wigge
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Frank und Serkan scheinen mir zu vertrauen und erzählen mehr über ihren Alltag. Sie erzählen von der Anti-Gewalt-Therapie, die sie im Knast gemacht haben. Davon, dass sie sich inzwischen nicht mehr so leicht provozieren lassen, was sie auch sofort unter Beweis stellen, als sie während des Hofgangs von anderen Inhaftierten von den Fenstern aus angepöbelt werden: »Hey, ihr Wichser, was für schwules Zeug labert ihr da?« Serkan und Franks Gelassenheit ist wirklich vorbildlich.
    Auf der anderen Seite des Hofes sehe ich viele Inhaftierte, die sich von ihren Zellen aus durch die vergitterten Fenster hindurch unterhalten, sich Worte zurufen, ohne sich sehen zu können. Zwischen den Hofmauern hallen die Rufe so, dass nur Wortfetzen bei mir ankommen: »Alter!« – »… Matze sagt …« – »Oh Scheiße …«. Der Hof gleicht einem Meer aus Stimmen, die wie große Brecher gegen die Wände branden. Ich rufe zu zwei Inhaftierten in ihren Fenstern hinauf, um sie zu fragen, ob man so überhaupt miteinander reden könne. Eine Stimme antwortet mir: »Immerhin besser, als auf die Zellenwand zu starren.« Offensichtlich ist unter diesen Umständen der Austausch von Worten wichtiger als der Austausch von Waren, denke ich. Zurück im Zellentrakt biete ich Serkan und Frank unter den Augen eines aufmerksamen und etwas nervösen JVA -Beamten meinen Verbandskasten inklusive Schere an. Serkan und Frank werfen dem Beamten fragende Blicke zu, um sich die Sache abnicken zu lassen. Der Verbandskasten liegt ungeöffnet in Franks Händen. Was passiert, wenn sie die Schere finden? Eine Waffe für inhaftierte Straftäter – von mir übergeben … Während Serkan den Kasten öffnet, was mir eine Ewigkeit zu dauern scheint, denke ich wieder, wie ich nur so blöd sein konnte, ausgerechnet ein solches Tauschobjekt mit in den Knast zu nehmen. Langsam kommt es mir so vor, als würde auch der Beamte unruhig, er wendet seine Blicke nicht von uns ab.
    Was dann passiert, ist jedoch völlig anders als im Film. Niemand versucht, die Schere heimlich unter seinem Hemd zu verbergen, kein gereizter Beamter stürzt sich auf uns,um das gefährliche Objekt in Sicherheit zu bringen. Stattdessen wirkt die hochgehaltene Schmuggler-Schere wie ein giftiges Tier. Serkan und Frank schauen den Beamten fragend und mich ein wenig vorwurfsvoll an. Der Beamte wiederum wirft mir einen von diesen Was-soll-der-Scheiß-Blicken zu, wie ein genervter Vater, der seinen Sohn bei etwas Verbotenem ertappt hat. Ich füge mich gleich in die Rolle und zucke unschuldig mit den Schultern, wie um zu sagen, ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Glücklicherweise retten Frank und Serkan die Situation, indem sie den Tausch ganz vorbildlich ablehnen, um mich anschließend über die Regeln im Knast aufzuklären.
    Zehn Minuten später stehe ich vor dem Obervollzugsbeamten der JVA und komme mir immer noch ein wenig wie ein ungezogener Junge vor. Doch über den Scherenvorfall wird wohlweislich nicht mehr gesprochen. Stattdessen reicht mir der Abteilungsleiter mit einem vielsagenden Lächeln eine von Inhaftierten geschreinerte Holzkiste mit einem verzierten Türchen und einer glänzenden Lackierung, in der eine Sherry-Flasche aus seinem Privatbesitz liegt. Ich denke nicht lange nach, und die Sherry-Flasche wechselt mit einem zünftigen Handschlag den Besitzer. Der Deal ist gemachte Sache, und der Verbandskasten mit Schere verschwindet unspektakulär im Schreibtisch des Abteilungsleiters.
Der Atomtausch
    Ich fahre mit der Sherry-Flasche im Holzkasten weiter nach Köln, wo ein Freund im sogenannten Barter-Business arbeitet. Simon erklärt mir, dass die Firma, für die er arbeitet, Werbeminuten bei TV -Sendern und Werbeflächenfür Printwerbung an Firmen verkauft und dafür manchmal auch deren Produkte an Stelle von Geld als Zahlungsmittel annimmt. Er erzählt, dass momentan zum Beispiel 90000 Smoothies im Lager liegen. Simons Aufgabe ist es, das Tauschgut dann so gewinnbringend wie möglich weiterzuverkaufen. Simons Kunden nutzen diese Möglichkeit der Bezahlung gerne, da sie so bei geringem Werbebudget mit ihren Produkten zahlen können. So kann es schon mal vorkommen, dass ein Autohersteller Simon für eine Werbefläche mit siebzehn Kleinwagen bezahlt. Angefangen hat das Ganze wohl damit, dass Handwerker und Dienstleister in Kriegszeiten begannen, ihre Waren aufgrund von Geldmangel einzutauschen, anstatt sich gegenseitig mit Geld zu bezahlen. Nach dem Krieg hat sich in Deutschland
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