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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben?
Autoren: Sarah Bakewell
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man eine weinende Nachbarin aufmuntern? Wie sein eigenes Haus schützen? Was ist die beste Strategie, wenn man sich in der Gewalt bewaffneter Räuber befindet, die nicht wissen, ob sie einen töten oder als Geisel festhalten sollen? Ist es klug, sich einzumischen, wenn man die Erzieherin seiner Tochter etwas sagen hört, was den eigenen Grundsätzen widerspricht? Wie geht man mit einem üblen Raufbold um? Was sagt man seinem Hund, der zum Spielen ins Freie will, während man selbst lieber am Schreibtisch sitzen und an seinem Buch weiterarbeiten möchte?
    Montaigne gibt keine abstrakten Antworten, sondern teilt uns mit, was er selbst in der jeweiligen Situation getan hat. Er liefert uns die konkreten Details – und manchmal noch viel mehr. Ohne besonderen Grund teilt er uns mit, das einzige Obst, das er gern esse, seien Melonen; dass er Sex lieber im Liegen als im Stehen mache; dass er nicht singen könne, anregende Gesellschaft schätze und im Eifer des Gefechts manchmal Rundumschläge austeile. Er beschreibt aber auch Gefühle, die schwerer in Worte zu fassen oder auch nur wahrnehmbar sind: Wie es ist, faul zu sein, mutig oder unentschlossen; wenn man seiner Eitelkeit nachgibt oder versucht, sich von einer alles beherrschenden Angst zu befreien. Er schreibt sogar über das schiere Gefühl, am Leben zu sein.
    Montaigne beschäftigte sich mehr als zwanzig Jahre lang mit solchen Phänomenen, er stellte sich selbst immer wieder in Frage und zeichnete schreibend ein Bild seiner Person. Auf diese Weise entstand ein sich beständig veränderndes Selbstporträt, das bis heute so lebendig ist, dass der Leser das Gefühl hat, Montaigne trete aus den Buchseiten heraus, setze sich neben ihn und lese mit. Montaigne sagt zuweilen überraschende Dinge. Vieles hat sich verändert, seit Montaigne vor fast fünfhundert Jahren geboren wurde, und weder die von ihm geschilderten Verhaltensweisen noch die Ansichten und Überzeugungen sind für uns heute immer nachvollziehbar. Dennoch: Montaigne zu lesen bedeutet, erschrocken festzustellen, wie vertraut er uns ist. Der zeitliche Abstand zwischen ihm und dem Leser des21. Jahrhunderts scheint aufgehoben. Viele Leser erkennen sich in ihm in ähnlicher Weise wieder, so wie die Besucher der Webseite «The Oxford Muse» in der Geschichte der gebildeten russischen Putzfrau oder in der Beschreibung eines Menschen, der aufs Tanzen verzichtet, Facetten ihrer selbst erkennen.
    Michel de Montaigne um 1588, Bleistiftzeichnung von François Quesnel. Es dürfte sich hier um das authentischste Porträt Montaignes handeln.
    Der Journalist Bernard Levin schrieb 1991 in einem Artikel für die Times: «Jeder Leser Montaignes lässt irgendwann das Buch sinken und fragt ungläubig: ‹Woher wusste er das alles über mich?› » Die Antwort lautet natürlich, dass er es wusste, weil er über sich selbst Bescheid wusste. Umgekehrt verstehen ihn die Leser, weil auch sie «das alles» schon aus eigener Erfahrung wissen. Blaise Pascal, ein obsessiver Montaigne-Leser, schrieb im 17. Jahrhundert: «Nicht bei Montaigne, sondern in mir selbst finde ich alles, was ich dort sehe.»
    Virginia Woolf stellte sich vor, wie die Menschen an Montaignes literarischem Selbstporträt vorbeispazieren wie Besucher vor den Bildern in einem Museum. Sie bleiben stehen und beugen sich vor, um durch die Spiegelung im Glas hindurchzusehen. «Immer stehen eine Menge Menschen vor dem Bilde, schauen in seine Tiefe, sehen ihre eigenen Gesichter darin gespiegelt, sehen um so mehr, je länger sie schauen, und wissen nie so recht zu sagen, was sie da eigentlich sehen.»Das Gesicht des Porträts und ihr eigenes fließen ineinander. Das war für Virginia Woolf die Art und Weise, wie Menschen generell aufeinander reagieren:
    Wie wir in Omnibussen und Untergrundbahnen einander gegenübersitzen, schauen wir in den Spiegel […]. Und die Romanciers werden künftig immer mehr die Bedeutung dieser Spiegelungen wahrnehmen, denn selbstverständlich gibt es nicht nur eine Spiegelung, sondern eine nahezu unendliche Anzahl; dies werden die Tiefen sein, die sie ergründen, dies die Phantasie, die sie verfolgen werden.
    Montaigne war der erste Schriftsteller, dessen Texte genau diesen Effekt haben sollten. Den Stoff dafür schöpfte er aus seinem eigenen Leben, er erörterte keine abstrakten philosophischen Probleme und schilderte keine fiktionalen Begebenheiten. Er war ein sehr menschlicher Schriftsteller und ein sehr kommunikativer obendrein. Würde er
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