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Wie man mit einem Lachs verreist

Wie man mit einem Lachs verreist

Titel: Wie man mit einem Lachs verreist
Autoren: Umberto Eco
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weist Medoro zurecht. Man sagt nicht jedem Hergelaufenen seinen Namen, und man nennt nicht unbedachterweise einen anderen beim Namen, im Freien, so daß es alle hören können. Ein Name ist ein intimer Besitz, bei Namen ist Schamhaftigkeit
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    geboten. Wenn ein Amerikaner mit uns spricht, nennt er
    unseren Namen in jedem Satz und freut sich, wenn wir
    umgekehrt das gleiche tun. Ein Alessandriner kann den ganzen Tag lang mit dir sprechen, ohne dich ein einziges Mal beim Namen zu nennen, nicht einmal wenn er sich verabschiedet.
    Man sagt »ciao« oder »arrivederci«, aber nicht »arrivederci, Giuseppe«.
    Die dritte Epiphanie ist mehrdeutiger. Im Gedächtnis haftet mir der Anblick jenes weiten städtischen Platzes, zu weit wie eine vom Vater auf den Sohn übergegangene Jacke, mit jener
    kleinen Gestalt, die sich in zu großer Entfernung von unserer Kutsche abzeichnete, und die Vision einer zweifelhaften Begegnung mit einem Freund, den ich nie wiedersehen sollte.
    Auf den übertrieben großen, brettebenen Plätzen von
    Alessandria verliert man sich. Wenn die Stadt wirklich verlassen daliegt, am frühen Morgen, in der Nacht oder an Ferragosto (aber es genügt auch ein Sonntagmittag gegen halb zwei), hat man von einem Punkt zum ändern immer zu lange zu gehen (in dieser so kleinen Stadt), und immer im Freien, wo einen jeder sehen könnte, der sich hinter einer Hausecke versteckt oder in einer vorbeifahrenden Kutsche sitzt, jeder könnte dich in deiner Intimität entdecken, deinen Namen rufen und dich für immer verlieren. Alessandria ist weitläufiger als die Sahara, es wird von verblichenen Fata Morganen durchzogen.
    Deshalb reden die Leute so wenig, man macht sich knappe Zeichen, man verliert sich (dich). Das hat Einfluß auf die Beziehungen, auf die Feindschaften ebenso wie die
    Liebschaften. Alessandria hat urbanistisch gesehen keine Zentren, in denen man sich versammelt (vielleicht ein einziges: die Piazetta della Lega), es hat fast nur Zentren, in denen man sich zerstreut. Deshalb weiß man nie, wer gerade da ist und wer nicht.
    Mir kommt eine Geschichte in den Sinn, die nicht
    alessandrinisch ist, aber es sein könnte. Salvatore verläßt im Alter von zwanzig Jahren den Heimatort, um nach Australien auszuwandern, wo er vierzig Jahre lang in der Fremde lebt.
    Dann, mit sechzig, nimmt er seine Ersparnisse und kehrt heim.
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    Und während der Zug sich dem Bahnhof nähert, phantasiert Salvatore: Wird er die Kameraden wiederfinden, die Freunde von damals, in der Bar seiner Jugend? Werden sie ihn
    wiedererkennen? Werden sie ihn freudig begrüßen, ihn
    auffordern, seine Abenteuer unter Känguruhs und Aborigenes zu erzählen, ihm begierig an den Lippen hängen? Und jenes Mädchen, das ...? Und der Drogist an der Ecke? Und so weiter
    ...
    Der Zug fährt in den leeren Bahnhof ein, Salvatore tritt auf den Bahnsteig, der unter der sengenden Mittagssonne daliegt. In der Ferne ist ein gebeugtes Männchen zu sehen, ein
    Eisenbahner. Salvatore sieht genauer hin, erkennt die Gestalt trotz des buckligen Rückens, das Gesicht trotz der Runzeln: aber ja, das ist Giovanni, der alte Schulkamerad! Er winkt ihm zu, nähert sich bang, deutet mit zitternder Hand auf sein eigenes Gesicht, wie um zu sagen: »Ich bin es.« Giovanni sieht ihn an, scheint ihn nicht zu erkennen, dann aber hebt er grüßend die Hand und sagt: »He, Salvatore! Was machst du hier, fährst du weg?«
    In der großen alessandrinischen Wüste verbringt man fiebernde Pubertäten. 1942, ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, zwischen zwei und fünf Uhr an einem Julinachmittag. Ich suche etwas, von der Zitadelle bis zur Rennbahn, dann von der Rennbahn bis zum Stadtpark und vom Stadtpark bis zum Bahnhof, dann fahre ich quer über die Piazza Garibaldi, umfahre das
    Zuchthaus, strebe erneut in Richtung Tanaro, aber jetzt mitten durchs Zentrum. Nirgendwo ist jemand zu sehen. Ich habe ein festes Ziel, den Kiosk am Bahnhof, wo ich ein Sonzogno-Heft gesehen habe, vielleicht schon Jahre alt, mit einer aus dem Französischen übersetzten Geschichte, die mir faszinierend erscheint. Kostet eine Lira, und ich habe genau eine Lira in der Tasche. Kaufe ich's, kaufe ich's nicht? Die anderen Läden sind zu oder sehen so aus. Die Freunde sind in den Ferien.
    Alessandria ist nichts als leerer Raum, Sonne, Rennpiste für mein Fahrrad mit den pockennarbigen Reifen, das Heftchen am Bahnhof ist das einzige Versprechen von Erzählwelt, also von Wirklichkeit. Viele Jahre später war
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