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Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)

Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)

Titel: Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)
Autoren: James N. Frey
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mochte. Sie kroch zum Herd, richtete sich auf und streckte ihr Händchen nach dem Griff aus …
    Hier ergeben sich folgende Fragen:
    1) Wird die kleine Mary an den Griff herankommen, den Topf vom Herd ziehen und sich an dem kochenden Wasser verbrühen? und
    2) Wird die Mutter rechtzeitig zurückkommen?
    Doch der Autor will hier mehr als nur Fragen zum Verlauf der Geschichte aufwerfen. Die meisten Leser werden sich bei dieser Szene Sorgen machen und hoffen, daß eine Tragödie verhindert wird. Besorgnis ist eine stärkere Reaktion als Neugier.
    Um Angst und Besorgnis beim Leser auszulösen, muß der Autor zunächst einmal sympathische Figuren schaffen. Eine sympathische Figur ist eine, der die meisten Leser Gutes wünschen.
    Als nächstes muß der Autor die sympathische Figur in eine bedrohliche Situation versetzen. Die Bedrohung muß natürlich nicht unbedingt physischer Art sein. Betrachten Sie die folgende Szene:
    Die kleine Prudence hatte mit Freddy Todd einen Deal gemacht. Er dürfe ihr genau dreißig Sekunden unter den Rock gucken, wenn er ihr dafür zwei Wochen lang sein Taschengeld gäbe. Die alte Tante Matilda kam zufällig vorbei, als die beiden hinter der Scheune hockten, und beobachtete schockiert, wie dieser teufliche Vertrag erfüllt wurde.
    In diesem Fall ist die Bedrohung nicht physischer Natur, aber eine Bedrohung ist dennoch da. Die Angst vor gesellschaftlicher Mißbilligung ist oft stärker als eine körperliche Bedrohung. Stellen Sie sich diese zweite Art von Bedrohung als die berechtigte Erwartung des Lesers vor, daß einer sympathischen Figur etwas Schlimmes zustößt.
    Das betrifft nicht nur den Anfang eines Romans. Der Leser sollte sich während der ganzen Geschichte Sorgen machen, daß sympathischen Figuren etwas Schlimmes zustoßen könnte.
    • In Das rote Tapferkeitsabzeichen besteht das Schlimme darin, daß Henry den Mut verliert und daß er möglicherweise stirbt.
    • In Der weiße Hai besteht das Schlimme darin, daß der große Hai sympathische Figuren frißt und daß er Brodys Leben ruiniert.
    • In Carrie besteht das Schlimme einmal in dem, was die bösen Jungs in der Schule sich für Carrie ausgedacht haben, und dann in dem noch viel Schlimmeren, was jedem sympathischen Menschen in der Stadt zustoßen wird, wenn sie Carrie in Rage versetzen.
    • In Stolz und Vorurteil besteht das Schlimme darin, daß Elizabeth und Darcy sich vielleicht nicht ineinander verliehen und nicht heiraten. (Auch wenn sie zunächst nicht miteinander auszukommen scheinen, weiß der Leser, daß sie füreinander bestimmt sind)
    • In Verbrechen und Strafe besteht das Schlimme nicht so sehr darin, daß Raskolnikow einen Mord begeht, sondern in den schrecklichen Folgen dieser Tat.
    • Im Prozeß ist das Schlimme K.‘s Verhaftung.
    • In Vom Winde verweht ist das Schlimme das Eindringen der Yankees.
    Wie schwer ist es für einen Autor, die Sache so zu konstruieren, daß die Dynamik der

Spannung - eine sympathische Figur, die einer Bedrohung ausgesetzt ist - funktioniert? Überhaupt nicht schwer.
    Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einem Büro und bemerken, wie die Menschen dort von der alltäglichen Routine zermürbt werden, wie sie mit den Jahren immer mehr abstumpfen, bis sie nur noch zombiehaft ihre Arbeit verrichten. Sie denken, das wäre ein wunderbares Thema, über das man schreiben könnte, und sie fangen mit Ihrer Geschichte an. Jede Figur in der Geschichte wird vom System zermürbt, aber irgend etwas scheint nicht zu stimmen. Es gibt keine Spannung. Die Bedrohung fehlt - jedenfalls reicht sie nicht, um beim Leser Angst und Besorgnis auszulösen. Na schön, sagen Sie sich, wer könnte denn bedroht sein? Gewiß keiner von den Zombies. Nein, es müßte ein neuer Angestellter sein. Jemand, der sich nicht zermürben läßt. Jemand, der sich wehrt.
    Dann würden Sie sich überlegen, worin denn die Bedrohung bestehen könnte. Ein Chef im Büro kann nicht so ohne weiteres jemanden bedrohen, also stecken Sie fest. Sie überlegen sich, wie kann ich die Situation verändern? Was wäre, wenn die Geschichte nicht in einem Büro, sondern in einer psychiatrischen Klinik spielte, und die Oberschwester wäre fest entschlossen, einen der Patienten kleinzukriegen? Da hätten Sie eine äußerst spannungsgeladene Situation. Ken Kesey hat das sehr gut in Einer flog über das Kuckucksnest umgesetzt. Die Sache funktioniert, weil die Große Schwester die Macht hat, andere zu bedrohen.
    Mal angenommen, Sie haben eine
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