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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt
Autoren: Friederike Schmöe
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Grün und Grau. Ein Baum hatte sich vor Jahren über den Bach gelegt. Aus dem waagerechten Stamm wuchsen neue Bäume, schmale, hohe Stämme, die sich nach den Wolken streckten.
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach Batumi zu fahren. Und ein weitaus größerer, den botanischen Garten zu durchwandern, als seien wir auf einer Exkursion unter Biologen. Ausgesetzt, unvorbereitet. Sowie ich den Mann mit der Waffe im Anschlag aus dem Gebüsch knapp über uns treten sah wie einen Flitzer oder einen Typen, der eben mal pinkeln war, schaltete mein Gehirn in den ersten Gang. Ich hatte den Schreck und das Adrenalin gebraucht, um das ganze, große kaukasische Gemälde interpretieren zu können.
    Der Typ knurrte. Er trug eine Lederjacke und schmuddelige Jeans. Seine Augen blickten traurig, als täte es ihm leid um uns. Vielleicht stellte er auch nur den typischen Blick zu Schau, der so vielen Männern im Kaukasus eigen war: melancholisch, spöttisch, unbeteiligt. Von allem ein bisschen.
    Er sagte etwas auf Russisch. Juliane wurde blass. Auf einmal sieht sie alt aus, dachte ich. Die Situation war nur komisch. Nichts, worüber man sich Sorgen machen mochte.
    »Frag ihn, ob er in Bordschomi an meinem PC war«, bat ich Sopo.
    Unsere Dolmetscherin stand kurz vor der Ohnmacht.
    Der Typ raunzte etwas, diesmal auf Georgisch.
    »Er will, dass wir vor ihm hergehen!« Sopo setzte sich in Bewegung, Juliane folgte ihr, und ich ging mit, weil mir nichts anderes übrigblieb.
    Er wollte uns erledigen und dafür sorgen, dass unsere Leichen nicht so schnell entdeckt wurden. Drei Tote ins Unterholz zu schleppen, würde zu lange dauern und zu viel Kraft kosten.
    Wo war der Wächter, den wir vorhin getroffen hatten? War er eingeweiht? Oder spielte er gerade Domino?
    Ich ging einfach mit. Rutschte in meinen Chucks einen schlammigen Hang hinauf, quer durch Büsche, deren Zweige nach meinen Jeans fassten. In Batumi könnte es manchmal derart regnen, so hatte ich gehört, dass man sich in den Tropen glaubte. Das musste in der Nacht passiert sein: Die Erde war nass wie ein Schwamm, der mehrere Tage in einer Pfütze gelegen hatte.
    Wir stiegen und stiegen, fort vom Weg, fort vom Strand, fort von der Welt, in immer tieferes Grün, und ich dachte, ich kann jetzt nicht sterben, das wäre zu albern. Irgendwie war ich an meinem eigenen Leben nicht mehr richtig beteiligt.
    »Pass auf«, zischte Juliane. »Er kann nicht alle drei gleichzeitig umlegen. Ich ziehe seine Aufmerksamkeit auf mich. Er schießt. Trifft vielleicht oder versucht es ein zweites Mal.«
    »Bist du bescheuert oder was?«
    »Rossi-Revolver haben normalerweise sechs Patronen. Nicht mehr.«
    »Tickst du noch richtig? Woher weißt du …«
    »Lebenserfahrung Kea!« Sie schwieg kurz. »Kurzläufig. Bei diesem Modell verdeckt die Griffschale den Hahn.«
    Der Mann schrie uns an. Wir keuchten. Ich hechelte so laut ich konnte und presste zwischen meinen vermutlich letzten Atemzügen heraus: »Vergiss es.«
    Juliane ignorierte meine Widerworte und wartete mit ihrer Entscheidung nicht auf mich. Sie drehte sich um, brüllte den Typen an, und meine Beine trugen mich weg.

44
    Medea betrachtet das Kind. Nein, nicht Kind. Und irgendwie doch wieder Kind. Zu dünn gekleidet für die Reise in die Berge. Bibbernd angekommen, so viel größer als Medea, einen ganzen Kopf größer, wer hätte das gedacht.
    Medea hat sie nicht richtig in die Arme nehmen können. Ihr eigener Kopf kam irgendwo auf dem Schlüsselbein des Kindes zu liegen.
    Die Ziege hat es sich vor dem Bett bequem gemacht. Vor Medeas Bett. In dem jetzt das Mädchen schläft. Eingekuschelt in viele Decken. Schläft. Schläft. Schläft. Warm und ruhig wie ein Baby. Die Wunden in ihrem Gesicht sind fast verheilt.
    Medea legt Holz nach. Sie lauscht in ihr Herz. Irgendetwas geschieht da, und sie weiß nicht, was es ist. Als ob es taut.
    Sie haben nicht gesprochen, das funktionierte nicht, als hätten sie keine gemeinsamen Wörter mehr, die sie teilen könnten. Sie haben sich nur bei den Händen gehalten. Sie hat das Kind heimgeführt, an der Hand, die Ziege ist neben ihnen gegangen, mit klappernden Hufen, während weiter der Schnee fiel. Sie haben geschwiegen und sich angesehen, haben auf dem Bett nebeneinander gesessen und das Kind hat den Arm um Medea gelegt. Medeas Kopf hat seinen Platz an der Brust des Kindes gefunden und das Herz schlagen hören, satt und stark und ruhig.
    Das Fell der Ziege ist nass und riecht. Medea hat sich Sorgen gemacht, ob
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