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Werden sie denn nie erwachsen?

Werden sie denn nie erwachsen?

Titel: Werden sie denn nie erwachsen?
Autoren: Evelyn Sanders
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war, ließen wir ihn ohne großes Bedauern ziehen.
    Katja war es, die uns allen aus der Seele sprach: »Ich liebe meinen Bruder wirklich, aber am meisten liebe ich ihn, wenn er mindestens hundert Kilometer weit weg ist.«

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    Was schenkt man seinen Kindern zum Abitur? Um die Jahrhundertwende ist wohl spätestens zu diesem Zeitpunkt die goldene Uhr fällig gewesen, sofern der Primaner sie nicht schon zur Konfirmation bekommen hatte. Heute besitzt jeder Abiturient mindestens drei Armbanduhren mit zum jeweiligen Outfit passendem Ziffernblatt. Gold ist spießig, Plastik ist in.
    Ganz begüterte Väter pflegten seinerzeit ihren gerade der Schule entronnenen Nachkommen einen Scheck zu überreichen und sie auf Reisen zu schicken, damit sie sich von den Strapazen des Lernens erholen sowie ihren Horizont erweitern könnten. Als Begleitperson wurde etwas Zuverlässiges aus dem Bekanntenkreis erwählt, meist ein sogenannter väterlicher Freund oder – wenn die zu begleitende Person weiblichen Geschlechts war – die ältliche und selbstverständlich unverheiratete Kusine zweiten Grades, der man auf diese Weise auch mal etwas Gutes tun konnte. Erkorenes Ziel war meistens Italien, erstens wegen des Wetters und zweitens wegen der Bildung.
    Die heutigen Abiturienten buddelten allerdings schon im Windelalter Löcher in den Strand von Rimini, wußten bereits als Grundschüler, an welcher Imbißbude in Marbella die Fritten am billigsten sind, und wenige Jahre später, als sie sich noch mit den ersten französischen Vokabeln herumschlugen, beherrschten sie den tiefschürfenden Satz »Wo kommst du her?« schon in vier verschiedenen Sprachen. Nein, mit Auslandsreisen kann man den jetzt Neunzehnjährigen nicht mehr imponieren.
    In Österreich sind sie im Landschulheim gewesen, in Frankreich als Austauschschüler, die Klassenfahrt war ins Elsaß gegangen, und Holland hatte man mit dem Schachclub besucht. Studienreisen? Aber selbstverständlich, hatten wir doch auch schon. Eine Woche Berlin zum Beispiel, vom Kultusministerium bezuschußt zwecks Besichtigung der Mauer, die man jetzt allerdings nur noch in Form von kleinen bunten Bröckchen käuflich erwerben kann. Dann mußte man noch den Reichstag durchwandern und auf dem Alexanderplatz seinen Zwangsumtausch in Schallplatten oder Bücher einwechseln, womit der Kultur meist Genüge getan war und man sich dem Studium von Schaufensterauslagen und Diskotheken widmen konnte.
    Eine Reise als Belohnung fürs bestandene Abitur fiel also aus. Was dann? Ein eigenes Auto? In unserem Fall hätten es normalerweise gleich zwei sein müssen, Zwillinge kriegen ja grundsätzlich alles doppelt, und außerdem … sie hatten schon eins! Größenwahn war es nicht gewesen, dem die Mädchen ihre schon etwas bejahrte Ente zu verdanken hatten, auch nicht die mehr oder weniger regelmäßigen, mit anklagendem Unterton vorgebrachten Bemerkungen wie: »Uwe hat den alten Wagen von seinem Vater gekriegt, der hat sich nämlich einen neuen gekauft!« oder: »Daniela darf das Auto von ihrer Mutter benutzen, wann sie will.« Abgesehen davon, daß die ach so beneidenswerten Freunde samt und sonders älter und schon im Besitz der begehrten Führerscheine waren, hielt ich es aus rein pädagogischen Gründen für übertrieben, gerade erst achtzehn gewordenen Teenagern ein eigenes Auto vor die Tür zu stellen. An diesem Vorsatz hielt ich fest, bis das vorletzte Schuljahr begann.
    Ländliche Gymnasien haben große Vorteile. Die Kriminalität beschränkt sich auf das nächtliche Besprühen der Schulhauswände mit gerade gängigen Parolen (We don’t need no education) oder die mutwillige Zerstörung eines Fensterrollos, was eine extra gebildete Untersuchungskommission zur Folge gehabt hatte (die wie die meisten Untersuchungskommissionen zu keinem Ergebnis gekommen war!), aber es hatte weder Schlägereien gegeben noch Drogenprobleme. Sogar die beiden sehr alternativ eingestellten neuen Lehrer war man wieder losgeworden. Ihre eigenwilligen Unterrichtsmethoden, nämlich mit gekreuzten Beinen auf den Tischen zu sitzen und Atemübungen zu praktizieren, hatten zwar den Schülern recht gut gefallen, nicht aber den Eltern.
    Yoga statt Geographie? Die Kinder sollten doch erst einmal lernen, wo Indien überhaupt liegt! Es dauerte auch nicht lange, da waren die beiden Selbstbesinnungs-Fetischisten an eine andere Schule versetzt worden, und daß die Erdkundestunden mangels kompetenter Lehrkräfte bis zum Schuljahresende größtenteils
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