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Wer Wind sät

Wer Wind sät

Titel: Wer Wind sät
Autoren: Nele Neuhaus
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Augen. Noch nie hatte er eine einfache Antwort auf eine einfache Frage geben können! Sie massierte sich die pochenden Schläfen. In den vergangenen drei Wochen hatte sie wirklich völlig abgeschaltet, die Alltagssorgen, ihren Job, ja sogar die drohende Abrissverfügung für den Birkenhof verdrängt. Aber jetzt stürzte alles wieder auf sie ein. Ohne zu zögern hätte sie den Urlaub auf unbestimmte Zeit verlängert, aber vielleicht lag ja das wahre Glück in der Beschränkung.
    Â»Ich muss zu einem Leichenfund nach Kelkheim«, entgegnete sie. »Mein Chef hat eben angerufen. Der Urlaub ist wohl wirklich vorbei.«
    *
    Das große Tor des Tierheims war abgeschlossen, der Parkplatz vor dem flachen Verwaltungsgebäude leer. Mark ging unruhig an dem hohen Zaun auf und ab und warf einen Blick auf sein Handy. Viertel nach sieben. Wo Ricky nur blieb? In spätestens zwanzig Minuten musste er los. Die Lehrer machten einen Riesenaufstand, wenn er auch nur eine Minute zu spät zum Unterricht kam, und schrieben sofort E-Mails an seine Mutter, nur weil er in der letzten Zeit ein paar Mal die Schule geschwänzt hatte. Bescheuert. Warum kapierten seine Eltern nicht, dass er keinen Bock mehr auf die Schule hatte? Seitdem er aus dem Internat gekommen war, fühlte sich sein ganzes Leben fremd und falsch an. Mark hätte tausend Mal lieber etwas Gescheites gemacht, statt sinnlos die Stunden in der Schule abzusitzen. Irgendetwas mit Tieren, dazu eine eigene Wohnung mit lauter Hunden und Katzen, wie bei Ricky und Jannis. Das wäre geil. Aber sein Vater würde tot umfallen, wenn er ihm mit diesem Vorschlag käme. Abi und Studium waren Pflicht, ein paar Auslandssemester gerngesehene Kür. Alles darunter war Proletenkram. Totales Versagen. Quasi der direkte Weg in den Hartz- IV -Abgrund.
    Er konnte von hier aus den asphaltierten Feldweg gut überblicken, der bis hinunter nach Schneidhain führte, aber außer ein paar frühen Hundespaziergängern war niemand zu sehen. Die halbe Nacht hatte er vor dem Computer gesessen, weil er nicht schlafen konnte. Sobald er die Augen zumachte, kamen die Erinnerungen. Er hatte Ricky eine SMS geschrieben, und sie hatte geantwortet, dass sie morgens um sieben im Tierheim sein würde. Jetzt war es schon halb acht. Mark beschloss, ihr entgegenzufahren.
    Als die Richterin ihn damals zu 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit im Tierheim verknackt hatte, hatte er fast die Krise gekriegt: so ein blöder Scheiß. Aber dann hatte er Ricky kennengelernt und Jannis, ihren Freund, und plötzlich hatte er wieder etwas gehabt, auf das er sich freuen konnte. Die Arbeit im Tierheim hatte ihm voll Spaß gemacht, und er half dort noch immer, obwohl er seine Strafe längst abgeleistet hatte. Es war so, als ob er bei Ricky und Jannis ein neues Zuhause gefunden hätte, eine neue Familie, in der er immer willkommen war. Jannis war sein großes Vorbild, manchmal diskutierten sie abendelang über Sachen, die Mark bis dahin null interessiert hatten: Afghanistan-Konflikt, Siedlungen in Israel, Aufnahme von Guantánamo-Häftlingen in Deutschland oder über Jannis’ Lieblingsthema, die Klimalüge. Jannis wusste über alles richtig gut Bescheid und hatte komplett andere Ansichten als Marks Vater, der sich höchstens mal über die Steuerpolitik der Bundesregierung oder über die Linken und die GRÜNEN aufregte. Vor allen Dingen ließ Jannis seinen Worten Taten folgen. Schon ein paarmal hatte Mark ihn auf Demos und Kundgebungen begleiten dürfen und war tief beeindruckt, weil Jannis tausend Leute kannte.
    Er setzte gerade den Helm auf und ließ seinen Roller an, da kam Rickys dunkler Kombi die Straße hoch. Sein Herz machte einen Satz, als sie neben ihm anhielt und die Scheibe herunterließ.
    Â»Guten Morgen«, lächelte sie. »Tut mir leid, dass ich etwas spät bin.«
    Â»Morgen.« Er merkte, dass er knallrot wurde. Leider eine normale Reaktion bei ihm, dieses blöde Rotwerden.
    Â»Hilf mir doch schnell beim Füttern«, schlug sie vor. »Dabei können wir reden, okay?«
    Mark zögerte. Ach was, scheiß auf die Schule. Er hatte dort alles gelernt, was es fürs Leben zu lernen gab. Das wahre Leben fand sowieso woanders statt.
    Â»Okay«, sagte er.
    *
    Die Morgensonne spiegelte sich in der hohen, gläsernen Fassade des futuristisch anmutenden Gebäudes, das im Gewerbegebiet auf einer sorgfältig
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