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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt
Autoren: Michael Wildenhain
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hörten sie Heino oder Volksmusik. Ihre Haare klebten meistens eng am Kopf. Bei ihren Frauen waren die Frisuren wasserstoffblondiert.
    Jeder von den Männern wirkte wie ein Hauswart. Hauswarte, wohin man sah. Deshalb auch die Schäferhunde. Keiner der Jugendlichen aus dem Kastenviertel ging auf eine Schule wie unsere. Außer jetzt die beiden Brüder mit dem kahlen Kopf.
    Wir standen da und trauten uns nicht auf die Kreuzung. Ich knirschte mit den Zähnen, damit keiner hören konnte, wie sie aufeinanderschlugen, sobald ich den Mund ein wenig offen stehen ließ. Ich fürchtete, die andern würden lachen, obwohl ihnen selbst die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Doch durch Lachen kann man sich befreien.
    Darum zuckte ich die Schultern, deutete nur, weil ich plötzlich etwas sah, das seltsam war, mit der Hand in Richtung Ampel, eine Querstraße entfernt. Die andern drehten sich erschrocken um und folgten mit den Augen meinem ausgestreckten Arm. Danach blickten wir verblüfft jeder einem andern ins Gesicht.
    Was wir sahen, konnten wir zuerst nicht glauben: An der Ampel wartete eine hutzelige Frau, links und rechts gestützt von den Janetzkis. Eine Frau mit Einkaufswagen, der die beiden Brüder flugs über die Straße halfen, als die Ampel grün geworden war. Das alte Einkaufswägelchen wirkte hinter dem breiten Körper des einen wie ein Spielzeug, das man nicht mehr mag. Doch trotz des Widerwillens, den man auch an der Haltung des Kopfes und der Schultern erkennen konnte, liefen die Brüder vorsichtig neben der alten Frau her und stützten sie, sobald es nötig wurde.
    Sie hatten erst drei Viertel der Fahrbahn überquert, als das Ampellicht auf Rot sprang. Da hoben sie die Frau, indem sie das magere Persönchen an beiden Achseln unterfassten, etwas hoch, trugen den hutzeligen Körper – zwei Schritte nur, ein letzter Schwung – bis auf den andern Bürgersteig und setzten ihn dort ab.
    Wir staunten erst mit ungläubigen Augen. Dann schluckten wir und sahen uns, während es schon dämmerte, noch einmal lange an.
    »Vielleicht ist das ihre Oma«, sagte Lisa ungläubig.
    »Bestimmt nicht«, meinte Kai, »die ist zu winzig.«
    »Vielleicht ’ne Nachbarin?«, vermutete Franco. Aber auch er sah nicht so aus, als ob er von dem, was er sagte, überzeugt sei.
    Während wir weiter mutmaßten und ich wie immer schwieg, verließ uns etwas von der Angst, der Anspannung der letzten beiden Tage. Selbst Ayfer sah mit einem Mal nicht mehr so verbissen vor sich hin. Und ich, ich merkte, wie sich meine Zähne beruhigten. Die Wangen wurden weich.
    Am Himmel färbten sich die Wolken erst dunkelrot, dann langsam lila. Und während sich die Brüder mühten, mit den kurzen Schritten der alten Frau zurechtzukommen, gingen zwischen den Häusern die Peitschenmastlaternen an. Und wir beschlossen fast erleichtert, den Brüdern unbemerkt zu folgen, obwohl uns die Gegend immer noch unheimlich war.
    Sie hatten die Frau vorsichtig in einen Hauseingang geführt und blieben darin kurze Zeit verschwunden. Das Licht im Treppenhaus ging an. Nach wenigen Minuten kamen die Brüder ohne die alte Frau zurück. Sie sahen sich nicht um, sondern liefen durch die Siedlung, als seien sie in Eile, durchquerten rasch den düstren Park. Wir folgten ihnen, immer in sicherem Abstand. Es war dunkel. Keiner der beiden achtete auf mögliche Verfolger. Wir mussten rennen, um die Brüder nicht aus den Augen zu verlieren.
    Hinter dem kleinen Park schloss sich die Laubenkolonie an, kleine Gärten, schmal wie ein Handtuch, ziemlich gerade Beete und Gartenzwerge unterm Pflaumenbaum.
    Wir kannten Kleingärten. Wir hatten, als wir jünger waren, dort hin und wieder Obst geklaut. Von diesen aber wussten wir nur aus Erzählungen, und die Geschichten hatten wie Warnungen geklungen.
    Die Kolonie erstreckte sich bis zum Kanal. Nach dem Wasser waren die Gärten fast verwildert. Die Gartenzwerge, die zuvor wie Wachmannschaften gewirkt hatten – bemützte, heimtückische Wächter, die aussahen, als könnten sie plötzlich aus ihrem Steingutschlaf erwachen –, gab es dort nicht mehr. Am Ufer, wo die Dächer vieler Lauben eingebrochen waren, fehlten zwischen den Grundstücken häufig auch die Zäune und der Stacheldraht.
    Wir hatten, weil wir sichergehen wollten, den Abstand in der Kolonie ein wenig größer werden lassen und deshalb, als wir den Kanal schon riechen konnten, die Brüder plötzlich an einer Gabelung verloren.
    Die Dunkelheit war wie ein Sack. Mit einem Mal erschien uns
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