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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt
Autoren: Michael Wildenhain
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beschlugen, obwohl er dran herumwischte, sah Kai fast gar nichts mehr.
    Viktor stand jetzt, ohne dass ihn irgendjemand festhielt, auf der Bank. Das Trommeln steigerte sich noch. Und während ich für Augenblicke meinte den Sog zu spüren, den Drang, der meine Hände, unabhängig von mir selbst, dazu bewegen wollte, auch zu klatschen oder an die Tür zu hämmern, rhythmisch und zunehmend schneller, sagte Franco, und er holte währenddessen ein Springseil unter der Bank hervor: »Wir hängen Viktor auf!«
    Die Worte füllten den Umkleideraum aus bis unter die Decke.
    Das Trommeln wurde trockener. Einige, die gejohlt hatten, hielten jetzt die Klappe. Doch das Klatschen der anderen forderte von Franco, die Schlinge, die er mit zwei, drei kurzen Handgriffen geknüpft hatte, um Viktors Hals zu legen. Noch wusste man nicht, ob es nur ein Scherz, bloß ein makabres Spiel sein sollte.
    Aber gerade als ich merkte, wie mich die Lähmung wieder überfiel – die, die es mir unmöglich machte, zu sprechen und mich zu bewegen –, warf Franco das andere Ende des Seils über ein Heizungsrohr an der Decke. Und während er langsam die Schlinge an Viktors Hals zuzog, baumelte das lose Ende neben Viktors Ohren.
    Kai hatte die Brille heruntergerissen und öffnete den Mund. Das Klatschen war stumpf, doch immer noch treibend. Viktor stand reglos auf seiner Bank und hielt die Augen geschlossen.
    Es schien, als wäre der Vorgang ihm beinahe gleichgültig. Als stünde er dort, um sich auszuruhen. Als wäre nicht er der, den alles betraf. Und diese Teilnahmslosigkeit war schrecklicher, als wenn er laut geschrien hätte.
    Karl-Heinz sagte beiläufig: »Siehst du, jetzt ist es so weit.«
    Viktor erwiderte nichts.
    Nur Eberhard, der sich bisher bloß abgetrocknet und danach ruhig angezogen hatte, der weder geklatscht noch irgendwie getrommelt hatte, wisperte, ohne dabei seinen Kopf zu heben und dennoch so, dass alle ihn verstehen mussten: »Lasst ihn los.«
    Weil die wenigen Worte wie eine Drohung klangen, drehte sich Karl-Heinz rasch um, musterte seinen Bruder und trat ihm zwischen die Beine.
    Tina, die an der Tür des Umkleideraums wartete, rief: »Das kannst du doch nicht machen!«
    Kai schlidderte, noch immer nackt, auf Franco und das Springseil zu.
    Eberhard krümmte sich zusammen. Seinem Blick war anzusehen, dass er von nun an seinen Bruder genauso wie den Vater hassen würde.
    Kai, dem jemand ein Bein stellte, kippte in eine Ecke.
    Noch immer klatschten einige. Tina schlug beide Hände erschrocken vor den Mund und ächzte.
    Franco, der neben Viktor stand, schien erst noch kurz zu zögern. Dann zog er an dem Seil.
    Aber das Heizungsrohr gab nach. Das Seil glitt herunter. Das Geräusch, das dabei entstand, klang so, als ob die Halterung des Rohres stöhnen würde.
    Und obwohl Viktor mittlerweile schon blau war im Gesicht und an den Lippen, ließ er sich von Karl-Heinz und Franco zu einem Handwaschbecken zerren, ließ es geschehen, dass die Schlinge unter dem Wasser festgezogen wurde.
    Als Franco sagte: »Noch einmal!«, und nur darauf zu warten schien, dass Karl-Heinz nicken würde, stellten auch die Letzten ihr Klatschen endlich ein.
    Doch erst als Tina an der Tür mehrmals hintereinander, wenn auch nur leise, seufzte: »Nein!«, erst als Kai sich in der Ecke aufrappelte und Eberhard, die Hände auf dem Unterleib, keuchte: »Du bist nicht mehr mein Bruder!«, erst als Karl-Heinz sich in dem Raum, der plötzlich eng wirkte, wild umsah, gelang es mir, mich wieder zu bewegen.
    Ich bückte mich zu meiner Fahrradpumpe, hob sie hoch über meinen Kopf, umklammerte sie fester und ging auf Franco zu.

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Michael Wildenhain wurde 1958 in Berlin geboren, wo er nach wie vor lebt. Nach einem Maschinenbaupraktikum studierte er u.a. Philosophie und Informatik. Heute schreibt Michael Wildenhain Romane für Jugendliche und für Erwachsene, außerdem Theaterstücke, Drehbücher und Lyrik. Für sein Werk wurde er schon mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Ernst-Willner-Preis in Klagenfurt, dem Hans-im-Glück-Preis (1994) und dem Alfred-Döblin-Preis (1997). 2002 war er Stadtschreiber von Rheinsberg und 2006 Writer-in-Residence an der Queen Mary University in London.
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