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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt
Autoren: Michael Wildenhain
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Lachen schnell und einige erhoben sich und gingen ohne zu grüßen.
    Als ich mit Ayfer am nächsten Tag, dem letzten Tag der Herbstferien, vormittags zum Krankenhaus kam, um noch einmal Sürel zu besuchen, trafen wir Kai und Lisa. Lisa erzählte, dass Karl-Heinz und Franco schon von unseren Treffen wussten. Das habe sie gehört. Von Tina. Auch von anderen.
    »Und sicherlich wissen die auch«, sagte Lisa leise, »was ihr dort besprochen … dass ihr euch gestritten habt … und dass Ayfer wenig Unterstützung findet.«
    »Ist egal«, knurrte Ayfer.
    Kai sagte: »Glaub ich nicht.«
    Lisa meinte: »Das wird schwierig. Du wirst Schwierigkeiten kriegen.«
    Sürel, der in seinem Zimmer auf dem Bett saß und schon wieder Schokolade essen konnte, nuschelte: »Lasst die Lehrer lieber weg! Ich geh zu den Bullen.«
    Dann grinste er, schwang sich von der Bettkante und lachte: »Viktor hat mich eingeladen: eine Woche. So lange kann ich sowieso noch nicht in den Unterricht.«
    »Reimt sich«, sagte ich.
    Und Sürel wiederholte: »Eine Woche!«
    »Eingeladen?«, fragte Lisa.
    »Eingeladen«, lachte er. Kaute seine Schokolade. »Von Viktors Vater.«
    »In das Haus mit den Geparden? Mit den Porzellangeparden?«
    »Kein Haus, eine Insel, irgendwo im Meer.«
    »Insel?«
    »Da muss er hin – Geschäfte! Irgend so was, was weiß ich. Ich werd in der Sonne liegen … und dabei an Franco denken … und in meine Cola Kiwischeiben tun.«
    Als wir das Krankenhaus verließen, nahm ich meinen Mut zusammen, schaute Ayfer an und sagte: »Kai hat Recht, das geht nicht gut.«
    Immer noch die bunten Bilder an den schrecklich weißen Wänden.
    Während ich mich wunderte, wie leicht mir das Sprechen mittlerweile fiel, lächelte Ayfer. Ihre Augen blinzelten verschmitzt. Sie fragte: »Machst du dir Sorgen? Um mich?«
    Ehe ich darauf antworten konnte, reckte sich Ayfer auf die Zehenspitzen und gab mir mitten im Krankenhausgang einen Kuss.

29
    Vielleicht hätte mich dieser Kuss tagelang beschäftigt. Vielleicht hätte er mich, auch wenn er nur kurz, trocken und eher winzig war, wieder für eine Weile zurück in die alte Starre fallen lassen. Aber da die Ereignisse zu rasch aufeinander folgten, kam ich nicht dazu, über Küsse nachzudenken.
    Es hatte sich tatsächlich bis zu den Brüdern herumgesprochen, dass Ayfer mit den Lehrern reden wollte, obwohl man – klare Regel – so etwas nicht tut.
    Wir waren zu dritt, als wir am ersten Schultag morgens die Klasse betraten: Ayfer, ich und Viktor. Ich ging mit Ayfer Hand in Hand und spürte ihre Finger bis in den Bauch, vielleicht sogar noch tiefer.
    Viktor lief ein Stück voraus. Im Schulflur hallten unsere Schritte. Auch Viktors Schlurfen war zu hören. Er erreichte die Tür der Klasse, während er sich nach uns umsah, drückte die Klinke, so, als sei sie sehr zerbrechlich, vorsichtig nach unten. Schaute kurz ins Klassenzimmer, schrak zusammen, zögerte, drehte sich erneut um, wollte Ayfer am Betreten unseres Klassenraums hindern, brachte jedoch keinen Laut über die Lippen, schüttelte nur langsam seinen Kopf.
    Vielleicht hätte man lachen müssen wegen des Anblicks, doch Ayfer schob Viktor beinah grob zur Seite und betrat den Raum. Zuerst sah man zehn kahle Köpfe, die in der Klasse an den Tischen saßen und auf die Tafel starrten. Sie saßen so, dass man die Absicht in der Anordnung erkannte. Sie bildeten im Raum das Muster einer lang gestreckten Raute. Und sahen so, wie sie dort saßen, alle gleich aus. Gleiche Glatze, gleiche Jacke, gleiche Hose, Springerstiefel, gleicher Blick, verschlossene Lippen, alle stellten sie ein ähnlich unbewegtes Gesicht für uns zur Schau.
    Neben Franco und den beiden Brüdern waren es die sechs, die bei der Wahl für Franco gestimmt hatten.
    Auch Tina saß als einziges Mädchen am hinteren Ende der Raute. Doch sie erschien mir mit dem kahl geschorenen Schädel nicht nur eigenartig fremd, man sah auch, dass sie sich sehr unwohl fühlte. Ihre Augen flackerten, und schließlich schloss sie sie sogar. Später begriff ich, dass sie nur wegen Eberhard dort saß. Doch im Moment waren die Gründe nicht so wichtig. Denn die zehn Uniformierten mit ihren kantigen Köpfen und ihren überwiegend stoischen Gesichtern gaben ein eindrucksvolles Bild ab, das bedrohlich wirkte.
    Der Anblick ließ mir einen Schauer langsam den Rücken herunterrieseln. Einen Moment lang glaubte ich den Sog zu spüren, der von der Gruppe ausging. Obwohl die, die dort saßen, nur Beiwerk waren. Wichtiger war
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