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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War
Autoren: Christa Bernuth
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anstatt mitzuschreiben. »In der Realität habe ich Paul zum letzten Mal bei einem Abendessen
     gesehen. Das ist ungefähr zwei Wochen her, ich glaube, es war an einem Freitag. Ja, es war bestimmt an einem Freitag, denn
     ich musste mich schon um elf verabschieden, weil ich am nächsten Tag einen frühen Seminartermin hatte. Also der Freitag vor
     zwei Wochen. Ein Abendessen bei Freunden, Barbara Fleiss und Manuel Bentzinger. Das war das letzte Mal.« Er lehnt sich zufrieden
     zurück und verschränkt die Arme, denn mehr gibt es zum Thema Paul, was ihn betrifft, nicht zu sagen. Ein üppiges Frühstück
     rückt nun in greifbare Nähe, natürlich nur, wenn er Kreitmeier zufriedengestellthat, und bislang sieht es ganz so aus, denn Kreitmeier hat seinen Stuhl an den Esstisch gerückt und schreibt nun doch in einer
     kindlich aussehenden Krakelschrift das ein oder andere Stichwort mit. Dann sieht er auf, direkt in Alex’ Augen. »Haben Sie
     ihn gut gekannt?«
    »Über gemeinsame Bekannte.«
    »Wie kommt es dann, dass Ihre Telefonnummer die letzte war, die er angerufen hat?«
    »Das kann nicht sein. Er hat mich in seinem ganzen Leben vielleicht dreimal angerufen. Und umgekehrt.«
    »Ja, das ist schon möglich, aber warum, glauben Sie, sind Sie der Zweite, den ich befrage? Weil er kurz vor seinem Tod Ihre
     Festnetznummer gewählt hat. Das ist so, daran besteht überhaupt kein Zweifel.«
    »Daran kann ich mich aber nicht erinnern.«
    »Es war ein kurzes Gespräch, kaum eine Minute lang. Hat er Ihnen vielleicht auf den Anrufbeantworter gesprochen?«
    »Keine Ahnung. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, wie gesagt. Wenn das alles war, was Sie wissen wollten   …«, und Alex macht Miene, aufzustehen, aber Kreitmeier lässt sich davon überhaupt nicht beeindrucken.
    »Noch nicht ganz«, sagt er widerspenstig wie ein Kind, »wir müssen noch die Sache mit dem Anruf klären.«
    »Es gibt nichts zu klären. Ich weiß nichts von diesem Anruf.«
    Kreitmeier kratzt sich mit dem stumpfen Ende seines Kugelschreibers ausgiebig am Hinterkopf. Eine geistesabwesende Bewegung,
     aus der man schließen kann, wie angestrengt es in ihm arbeitet. Man sieht die Gedanken in Wellen kommen und gehen, und es
     wird sehr still in der Küche, so still, dass man das sanfte, stetige Brummen des Verkehrs fünf Stockwerke unter ihnen hört.
     Der Kühlschrankmacht ein schnaufendes Geräusch, und Alex gleitet in eine seltsame, beinahe meditative Stimmung. Er kann fühlen, wie sich
     sein Ärger in nichts auflöst und sogar sein Hunger verschwindet, er befindet sich nun ganz im Jetzt, wünscht nichts, fordert
     nichts, registriert einfach nur, was ist, nämlich dass Kreitmeier sich vorgebeugt hat, sein Notizblock auf dem Tisch liegt,
     der Stift darüberschwebt. Er wirkt wieder wach und präsent. Sorgfältig formuliert er seine nächste Frage.
    »Was für ein Mensch war Paul Dahl? Wie haben Sie ihn erlebt. Sie sagen«, fährt er fort, Alex’ Einwand vorwegnehmend, »Sie
     haben ihn nicht besonders gut gekannt. Aber Sie haben sich doch sicher eine Meinung über ihn gebildet. Leute wie Sie bilden
     sich doch ständig Meinungen über irgendetwas.«
    »Leute wie ich?«, fragt Alex zurück und lächelt, aber Kreitmeier lässt sich nicht aus der Fassung bringen, sagt: »Ich will
     einfach nur Ihre Meinung hören«, und fährt trocken fort: »Dann gehe ich und lasse Sie in Ruhe ihren Frühsport machen, oder
     was immer Sie gerade tun wollen.«
    »Da bin ich ja neugierig.«
    »Das verspreche ich Ihnen. Nur noch diese Einschätzung, dann bin ich weg.«
    Überraschenderweise fühlt sich Alex mit einem Mal überredet, was sicher auch daran liegt, dass er solche Fragen ja wirklich
     mag, und so denkt er ernsthaft über Pauls Charakter nach, während Kreitmeier ihn unverwandt mustert, was Alex früher einmal
     etwas ausgemacht hätte. Als Kind war er so daran gewöhnt gewesen, missbilligend betrachtet zu werden, dass ihm auch noch als
     Erwachsener jeder Blick wie ein potenzieller Angriff erscheint, und er sich erst seit ein paar Jahren immunisiert fühlt gegen
     jede Form von Kritik, sie richtig einordnen kann alssubjektive Form des Unbehagens, das nichts mit ihm, sondern nur mit dem spirituellen Status quo seines Gegenübers zu tun hat.
     Er lässt alles an sich abfließen, das dazu geeignet ist, ihn zu verletzen oder zu verwirren.
    »Ich denke, er war durcheinander«, antwortet er nach reiflicher Überlegung, während Kreitmeier ihn weiterhin ansieht,
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