Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
Weiterfahrt gewünscht zu haben, und ich merke, wie ich rot werde, als ich ihren Gruß erwidere. Bis Augsburg sind wir ungestört, dann kommt eine Frau in unser Abteil, mit Reisetasche und einem kleinen Jungen, dem sie immer wieder dasselbe Bilderbuch vorliest, Regen Regen Tröpfchen, es regnet auf mein Köpfchen, und ich bin verdammt froh, dass wir sie nicht schon seit Würzburg ertragen müssen. In München steigen wir alle aus, Ricki mit ihrem Köfferchen, ich mit meinem Rucksack, die Frau samt Reisetasche und Kind. Auf dem Bahnsteig sehen wir noch, wie ein dünner Mann mit Bart und Brille sie überschwänglich begrüßt und sich den begeistert in die Hände klatschenden Jungen auf die Schultern hebt, so gehen sie auf den Ausgang zu. Eine glückliche Familie, ist mein erster Gedanke, und der zweite, eine, die noch nicht ahnt, was ihr in Zukunft blühen wird.
    Und dann sind wir in Allach und gehen die Straßen entlang, die ich schon so oft entlanggegangen bin, was heißt oft, mein ganzes Leben lang, bis ich mit neunzehn nach Frankfurt floh. Die Häuser und Gärten haben sich verändert, wann eigentlich, es kann nicht alles in den letzten drei Jahren passiert sein, auch wenn mir die Veränderungen früher kaum aufgefallen sind, vielleicht sehe ich meine alte Umgebung jetzt mit anderen Augen, weil Ricki neben mir geht. Viele Häuser haben Anbauten bekommen, Wintergärten, Garagen, oft auch einen Carport für den Zweitwagen, alles ist eine Sprosse höher auf der Leiter nach oben und mindestens eine oder zwei Gehaltsstufen teurer, es gibt schmiedeeiserne Zäune, manche Gärten sind zur Straße hin sogar mit Mauern abgeschlossen, Naturstein oder weiß verputzt, da und dort stehen herbstlich nackte Hollywoodschaukeln, ohne Polster, auch ab und zu kunstgewerbliche Artefakte, auf alt und verrostet getrimmt, und statt Tomaten, Salat und Johannisbeersträuchern sieht man Stauden, Büsche und Kübel mit Hortensien, die auch verblüht noch eine blasse Schönheit ausstrahlen, wie alte, auf impressionistische Manier hingetupfte Gesichter.
    Alles sieht anders aus, auch meine Eltern, sie kommen mir nicht mehr so alt vor, wie ich sie in Erinnerung habe. Meine Mutter wirkt in ihrem dunkelblauen Hosenanzug und der weißen Bluse auf eine biedere Art eleganter als früher, da hatte sie nur korrekt ausgesehen, und mein Vater, in einer braunen Cordhose und einer karamellfarbenen Strickjacke über einem hellen Hemd, scheint gewachsen zu sein, doch dann merke ich, dass er sich nur gerader hält als in den letzten Jahren. Haben sie sich wirklich verändert, oder liegt es an mir, an meinem Blick, weil Ricki neben mir steht?
    Die Begrüßung verläuft seltsam distanziert, ein Händeschütteln, ein »Herzlich willkommen, Ricarda«, wie bei einer offiziellen Veranstaltung, zu der man nur gegangen ist, weil es sich so gehört, auch wenn man vielleicht lieber zu Hause auf dem Sofa geblieben wäre. Was habe ich denn erwartet, dass Ricki meine Mutter mit einem Kuss mitten auf den Mund begrüßt, wie sie es immer bei mir tut? Was für eine absurde Vorstellung, ich kann nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken.
    Meine Mutter zeigt Ricki ihr Zimmer, meines, im Erdgeschoss, und ich stelle erstaunt fest, dass sie neue, farbige Bettwäsche angeschafft hat, mit breiten dunkelgrünen und hellgrünen Streifen, so etwas hatten wir früher nicht, da war unsere Bettwäsche weiß oder pastellfarben, und wenn schon nicht einfarbig, dann höchstens kleingemustert. Für dich habe ich das Bett in Maries Zimmer hergerichtet, sagt sie zu mir, dann schaut sie wieder Ricki an und sagt, das Bad ist leider oben, im ersten Stock.
    Ich gehe hinauf. Maries Zimmer ist unverändert, und ich bilde mir fast ein, dass es noch immer nach Räucherstäbchen riecht, sogar ihr MP3-Player liegt noch auf dem Schreibtisch, den sie mir damals verweigert hatte und den ich später, nach ihrem Verschwinden, nicht mehr hatte haben wollen, ebenso wie ich einen Umzug in das größere und hellere Zimmer oben ablehnte, als meine Eltern es mir zwei Jahre nach ihrem Verschwinden vorschlugen. Selbst jetzt fühle ich mich hier wie ein Eindringling.
    Während ich meinen Rucksack auspacke, geht die Tür auf, es ist meine Mutter, sie bleibt auf der Schwelle stehen und sagt, ohne mich anzuschauen, wir überlegen, ob wir sie nicht für tot erklären lassen sollen.
    Die Schlange in meinem Bauch wacht auf und schlägt wild um sich, ich spüre, wie sie das Maul aufreißt, bereit zuzubeißen. Wir glauben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher