Wer liebt mich und wenn nicht warum
Riesentopf mit Chili köchelnund wer Hunger hatte, konnte sich davon nehmen. Maiken war nämlich der Meinung, wir bräuchten alle eine Auszeit, eine Pause von unserer Gruppendynamik. Sie fand die Stimmung im Team gerade so gereizt. Vielleicht brauchten aber auch nur Maiken und Helge eine Auszeit von uns.
Ich ließ mir also Zeit für den Rückweg, schlenderte durch den zartgrünen Eichenwald, hörte den Amseln bei ihrem Abendkonzert zu, pfiff sogar ein bisschen mit und freute mich auf das Chili.
Yksi hatte ich schon fast vergessen, als sie plötzlich vor mir stand, groß, schwarz und mit gesenkten Hörnern.
Die Vögel verstummten. Ich auch.
Mir fiel sofort auf, dass sie schlanker wirkte als gestern. Sie musste ihr Kalb also schon geboren haben. Aber wo war es? Sie stand da ganz allein.
»Gaaanz ruhig, ich helfe dir. Zeig mir dein Kleines«, sagte ich zu ihr. Aber Yksi wirkte nicht besonders erfreut, mich zu sehen. Ihre Ohren zuckten nervös hin und her und sie starrte mich an. Ich blieb stehen und lächelte freundlich, ganz Krankenschwester.
Yksi schnaubte drohend.
Da begriff ich. Sie wollte keinen Beistand. Sie wollte ihre Ruhe. Gaaaaanz laaaaangsam zog ich mich zentimeterweise hinter einen Baum zurück.
Yksi wandte den Kopf zur Seite und schubberte mit ihrem Horn einen Streifen Rinde von einem Stamm. Ich fröstelte. Schärfte sie gerade ihre Waffen für den Kampf?
Ich wich noch einen Schritt zurück. Nanu? Yksi folgte mir.
Langsam machte ich drei Schritte rückwärts. Yksi kam vier Schritte näher. Oje, das führte zu nichts.
Jetzt keine Panikreaktion! Ich zwang mich zur Ruhe und überlegte. Yksi stand da und bedrohte mich, aber sie griff nicht an. Sie hatte sich also noch nicht entschieden, ob ich Freund oder Feind war. Vielleicht konnte ich ihr irgendwie vermitteln, dass ich auf ihrer Seite stand?
Da erinnerte ich mich an diesen Trick in meinem Buch und ich hatte eine Idee: Ich musste einfach aussehen wie ein Auerochse, um Yksi zu beschwichtigen, am besten sogar wie ein Auerochsenkalb. Harmlos, niedlich und friedlich. Dann würde sie mich ignorieren und ich konnte mich zurückziehen.
Ich checkte schnell die Lage: Ich trug schwarze Shorts und ein schwarzes T-Shirt, das war schon mal gut. Der Boden unter meinen Füßen war weich und glitschig. Auch gut. Langsam ging ich in die Knie, bohrte meine Finger in den Schlamm, formte zwei Matschkugeln und begann mit ruhigen Bewegungen, meine Beine, meine Arme und zuletzt mein Gesicht damit einzureiben. Als ich in Reichweite einen frischen Kuhfladen erspähte, machte ich in Zeitlupentempo einen Schritt zur Seite und trat mitten hinein. Uääääh. Schmodder quoll zwischen meinen Zehen hoch, denn ich trug nur Trekkingsandalen. Aber jetzt roch ich wenigstens auch nach Auerochse. Zuletzt drehte ich meine Haare zu einem Knoten und steckte als Befestigung einen Ast hinein. Das ergab zwar keine gewaltigen Hörner, aber für ein Kalb konnte ich so vielleicht durchgehen. Ich ließ mich auf alle viere nieder, tat so, als würde ich grasen, und zog mich dabei in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war.
Okay, ja, ich habe auch leise gemuht. Na und? Es ging um mein Leben!
Ich gab wirklich alles bei dieser Darbietung, aber es reichtenicht. Yksi hielt mich nicht für ein Kalb. Wahrscheinlich hielt sie mich nicht mal mehr für einen Menschen, sondern für irgendein geisteskrankes Zwischenwesen, das zu allem fähig war. Und so beschloss Yksi, mich vorsichtshalber einfach mal zu zertrampeln.
Schaukelnd setzte sie sich in Bewegung, gab Gas und beschleunigte ihr Tempo trotz ihres Körpergewichts in wenigen Sekunden von null auf gefühlte hundert.
Da wurde ich aber auch ganz schnell. Ich sprang auf, schleuderte meinen Rucksack ins Gebüsch und raste im Zickzack durch den Wald. Zum Glück standen die Bäume hier sehr eng, das war ein Vorteil. 800 Kilo Kuh mit Hörnern können zwar ganz schön schnell werden, aber 55 Kilo Lilia mit Stöckchen auf dem Kopf haben eindeutig die bessere Kurvenlage. Und weil Yksi in dem sumpfigen Waldboden mit ihren Klauen immer wieder einsank, während ich mich mit einem Sprung über solche Pfützen retten konnte, hatte ich bald einen guten Vorsprung.
Ich wusste, wohin ich wollte – zum nächsten Hochsitz. Wenn ich den erreichen konnte, war ich in Sicherheit. Doch wie sollte ich da hinkommen? Dazu hätte ich die große Wiese vor mir überqueren müssen und auf einer Lichtung ohne Bäume war Yksi im Vorteil. Im freien Lauf war sie einfach
Weitere Kostenlose Bücher