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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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Habibs Schweigen werden Kanonen mit Schwarzpulver gestopft, eine Krähe fliegt über eine sonnendurchflutete Ebene als Bote zwischen zwei feindlichen Lagern. Es ist Herbst.
    »Nicht vor allzu langer Zeit bin ich in den goldenen Aufzug des Hotels gestiegen. In diesem Aufzug zu schweben war eine Wonne. Wie im Schoß meiner Mutter fühlte ich mich, jenseits von Gut und Böse. Da kam mir eine Möglichkeit in den Sinn. Ich stellte mir vor, einen schöneren Tod als den durch meine Krankheit vorgezeichneten zu sterben. Einen wunderschönen, schrecklichen und eines Wissenschaftlers unwürdigen Tod. Ein zauberhaftes Verschwinden. Ich stellte mir vor, wie ich in die letzte Etage fahre und aus dem Fenster in ein leeres Krähennest schaue. In diesem Moment bin ich tot.« Habibs Lider zucken im Schlaf. Er rennt um sein Leben.
    »In leere Vogelnester habe ich niemals geschaut, Habib. Seitdem ich die Vögel zu bewundern begann, war mir immer bewusst: Ich kann machen, was ich will, ich kann Vögel durchs Fernglas beobachten, ich kann sie zeichnen, zählen, ihnen auf einer Pfeife vorspielen, ich kann sie braten und verspeisen, aus ihren blanken Knochen Griffe für die Schubfächer meinesSchreibtisches basteln – alles darf ich. Aber blicke ich eines Tages durch kahle Baumzweige in ein leeres Vogelnest, ist es um mich geschehen.« Auf Habibs Gesicht blüht ein schläfriges Lächeln. Lewadski legt die Hand auf sein Herz.
    »Eine verbotene Frucht, die mehr als den Tod bedeutet. Der Blick in ein leeres Vogelnest löscht alles aus: Meine Lebensneugier wäre erloschen, meine Lebensfreude, mein Respekt vor einem Wunder der Schöpfung – dem Vogel. Einem Freund in den Nachttopf zu schauen ist nichts dagegen. Dann schaute ich mich im Aufzug um und betrachtete meine vier Doppelgänger, sie alle keuchten mir in den Nacken und sagten: Lass das sein, Freund, geh lieber schön frühstücken, bis du nicht mehr aufstehen kannst. Wandere in deiner Suite von Fenster zu Fenster, schau auf das Treiben in der Straße, auf die alten Damen mit ihren possierlichen Hunden, das macht dich doch glücklich, nicht wahr? Ich schaute zur verspiegelten Liftdecke hoch. Fahre in die fünfte Etage, flüsterte mir mein fünfter Doppelgänger zu, schau in ein Vogelnest, versetze dir selbst den letzten Schlag, raube dir die Freude, erlösche!« Habibs Mund zuckt, als hätte er in ein elektrisches Kabel gebissen.
    »Ich vermute, mein seliger Vater hat in ein leeres Vogelnest geschaut, bevor er sich im Wald das Leben nahm. Aus Langweile. Er war ein Träumer, aber wer weiß schon, wer er wirklich war? Vielleicht, und das wäre viel furchtbarer, hat er es gezielt und bewusst getan, weil er die Zukunft vorausahnte, den Krieg, die Revolution, den Hunger. Am schönsten ist die Vorstellung, dass es keine Kugel gab, nur einen Blick – am brechenden Auge des Vaters schwirrt eine Blaumeise vorbei, zu einem fernen und unerreichbaren Ast ... Während ich im Aufzug zum Frühstück schwebte, habe ich meinen Vater, den ich nie gekannt habe, verstanden. Für denBruchteil einer Sekunde regte sich ein tiefes Verständnis in mir. So ist das, Habib.« Lewadski wischt sich über den Mund und redet weiter.
    »Was mir jetzt in meiner Situation bleibt, ist die Hoffnung auf die Kraft der Gedanken. Es gibt schließlich einen inneren Wecker. Früher bin ich oft aufgestanden, indem ich mir vor dem Einschlafen sagte, morgen Punkt sieben Uhr. Und Schlag sieben sprang ich wie von Bienen gestochen aus dem Bett. Kennen Sie diesen inneren Wecker?« In Habibs Schweigen klirren die Fahnen und klingen die Sporen, Grasbüschel wirbeln unter den Pferdehufen auf, langsam, wie mit Seetang bewachsene Korallen.
    »Es bleibt mir nur, wieder diese innere Uhr aufzuziehen und mich darauf zu verlassen: tot umfallen in zwei Wochen. Was sagen Sie dazu?« Schwarzer Rauch quillt aus Habibs Mund, eine Scheune mit Schweinen und Ferkeln brennt. Es ist Krieg. Krieg oder bloß ein Gewitter.
    »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als auf diese Uhr zu vertrauen, zu vertrauen auf die Kraft der Gedanken ...« Eine Frage, die ihre Dringlichkeit verliert, steht in Habibs aufgerissenen Augen. Sie sind trüb, von den Traumbildern überzogen, von seinem für ihn selbst unergründlichen Geheimnis. Ein Blick auf die Uhr über dem weißen Handschuh – ein Tag ist vergangen oder vielleicht auch zwei, und trotzdem bleibt Habib sitzen. Tagtäglich betritt er Lewadskis Suite und bleibt sitzen auf einem Puff ohne Lehne, dem schönsten
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