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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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Glas entlang, und schon verschwinden der Mund und der Haarschopf der Russin darin. Der Rest ihres Körpers scheint im Dunkeln zu Staubflocken zu zerfallen und nie da gewesen zu sein.
    Lewadski dreht seinen Kopf mit einem knarrenden Geräusch zu Herrn Witzturn, der gerade diskret seine Nase zurechtrückt. »Was ich nicht verstehe, ist, warum wir uns für die Neo-Neoromantik warm anziehen müssen.« Herr Witzturn schmunzelt.
    »Weil sie auf die herrschende Vernunft einen schmerzvollen, aber auch heilsamen Anschlag verüben wird. Die abendländische Zivilisation wird, da werden Sie mir recht geben, in der Sonne der nackten Tatsachen inzwischen gnadenlos gebraten. Der Baum des Glaubens ist in unserer materialistischen Welt verkümmert – er spendet keinen Schatten mehr. Um zu überleben, wird sich der Mensch auf die Romantik besinnen und sie in anderen Sphären suchen müssen. Er wird sie unter den Baumwurzeln und im Grundwasser suchen. Er wird sie suchen und finden und auf diese Art und Weise zur Natur zurückkehren. Das sagt mir meine Vernunft, Herr Lewadski.«
    »Oh, die Vernunft«, Lewadski schiebt die Unterlippe nachvorne. »Oft denke ich mir, wenn es wahren Terror gibt, dann ist es der Terror der Vernunft. Die schönsten Früchte der Phantasie lässt die verfluchte Vernunft nicht reifen ...«
    »Sie sprechen mir aus der Seele«, sagt Herr Witzturn, »Sie sprechen mir aus der Seele, lieber Freund, die Vernunft können wir alle schon lange in der Pfeife rauchen.« Er will noch etwas sagen, kratzt sich am Kopf und überlegt es sich anders.
    »Wir haben Licht!« Die Stimme des Barmanns klingt heller, als sie ist.
    Wie schade, denkt Lewadski, jetzt, wo ich endlich klar zu denken glaube.
    »Wir haben Licht«, triumphiert der Barmann. Mit angefeuchtetem Daumen und Zeigefinger geht er zur runden Konsole mit den Kerzen und löscht eine nach der anderen. Im Spiegel sieht Lewadski, dass das weiße Smokingjackett zu einem jugendlich wirkenden, aber nicht mehr jungen Mann mit aufmerksamen und gleichzeitig unendlich müden Augen gehört. Wir haben Licht, scheint der Barmann vor sich hin zu flüstern. Licht ...

5
    ZIMMER / ROOM 501-521
    »Pharaonennachtschwalbe, Schmarotzerraubmöwe, Orangenbandschnäppertyrann, Veilchenkopfelfe, tja, das sind keine besonderen Vögel, nur die Namen machen sie besonders. Verleihen ihnen Klang, Würde und vielleicht auch Halt. Aber was ist schon ein Name? Alles, und schon vom Wind verweht, wie Sand in der Welt verstreut.«
    »Sie sind traurig, weil Ihr Freund abgereist ist?«
    »Traurig und glücklich zugleich. Ich bin einem besonderen Menschen begegnet, Habib, einem Menschen wie alle anderen und doch besonders für mich, weil ich ihm begegnet bin, bewusst begegnet. Dass ich es bewusst getan habe, war mir natürlich nicht bewusst gewesen. Erst jetzt wird es mir bewusst. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen.« Habib kratzt sich ausgiebig den runden Schädel.
    »Ja, wir vergessen oft, dass jeder Mensch, dem wir begegnen, ein besonderer Mensch werden könnte. Für uns.«
    »Und durch uns, oder ist das zu viel verlangt?«
    »Ja, das vielleicht auch«, nickt Habib. »Als ich meinen gelähmten Vater pflegte, bin ich ihm, so wollte es das Schicksal, erst wirklich begegnet, obwohl er mich großgezogen, nackt gesehen und mir den Hintern versohlt hat, jahrelang. Die wahre Begegnung hat stattgefunden, als er hilflos vor mir lag und ich lernte, meine Tränen zurückzuhalten, während ich ihn fütterte und ihm die Wäsche wechselte. Oft war es mir, als habe er von diesem Kampf in mir gewusst und auch seine Tränen zurückgehalten, andere Tränen, Tränen des Stolzes und der Freude, die völlig fehl am Platz gewesen wären.«
    »Warum?«
    »Weil er sich hätte schämen oder vor Wut mit den Zähnen knirschen sollen. Schließlich war ich sein Sohn, ich verrichtete Frauenarbeit. Aber stolz war er trotzdem, da bin ich mir sicher.«
    »Vielleicht ist Ihr Vater durch seinen Stolz und seine Freude ein wahrer Vater geworden, ein besserer Mensch.«
    »Ein Sohn, der Frauenarbeit verrichtet!«, lacht Habib. »Um zu begreifen, dass es nichts Unwürdiges ist, musste er wohl einen Hirnschlag erleiden.«
    »Sehen Sie, so geht es mir auch heute, ich bin traurig und freue mich trotzdem. Diesen Herrn werde ich nie wiedersehen. Und vielleicht vergesse ich ihn bald. Doch es wird nichts bedeuten, das Wahre bleibt namenlos, zusammenhanglos und zuverlässig wie ein Apothekenpreis.«
    »Es ist noch früh, ich wette, Ihr Freund
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