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Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Autoren: Borwin Bandelow
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leitenden Arztes in einem Rehabilitationszentrum. Nach vier Wochen erkannte eine Richterin zufällig den ehemaligen falschen «Rechtspfleger». Ihm wurde ein weiterer Prozess gemacht, bei dem er mit einer Geldbuße von 600  Mark davonkam. Was das Gericht nicht wusste: Während des laufenden Verfahrens war er bereits wieder als Amtsarzt tätig, als Dr. Dr. Clemens Bartholdy in Flensburg. In dem Buch
Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy
, das er zusammen mit einem gewissen Reiner Pfeiffer verfasste, schildert er mehr oder weniger glaubhaft Fälle, in denen er in seiner Position als Amtsarzt zahlreichen psychisch komplett gesunden Personen wieder die Freiheit schenkte, nachdem ihnen eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie gedroht hatte, weil die erbschleicherische Verwandtschaft oder ihre untreuen Ehemänner sie loswerden wollten oder ignorante Psychiater in der Therapie versagt hatten. [271]
    Gert Postel flog nicht wegen Unfähigkeit auf, sondern weil seine verlorene Geldbörse gefunden wurde, die einen echten und einen falschen Ausweis enthielt. Er bekam eine einjährige Bewährungsstrafe – und machte munter weiter: Stabsarzt bei der Bundeswehr, Rentengutachter im Berufsförderungswerk Berlin-Brandenburg sowie in der Landesversicherungsanstalt Stuttgart.
    Als aufmerksamer
Spiegel
-Leser hatte ich damals den Fall Postel seit seinen Flensburger Aktionen verfolgt. Umso überraschter war ich, als ich später erfuhr, dass Deutschlands bekanntester Hochstapler in Zschadraß wieder zugeschlagen hatte. Lag es daran, dass man im «Tal der Ahnungslosen», wie vor der Wende die Gebiete genannt wurden, in denen Westfernsehen nicht zu empfangen war, nichts mitbekommen hatte?
     
    Auf der Suche nach dem Geheimnis dieses offensichtlich geschickten Schwindlers fahre ich in meine alte Studienstadt Tübingen und treffe Gert Postel in einem kleinen Maultaschenrestaurant zu einem Gespräch «unter Kollegen». Ich frage ihn, wie er es schaffte, unter seinem richtigen Namen, der ja seit seiner Hochstaplerkarriere überall bekannt war, einen Job in der Psychiatrie zu bekommen.
    «Ich habe mich auf eine Annonce im
Deutschen Ärzteblatt
beworben, auf die Stelle eines leitenden Oberarztes», erinnert sich Gert Postel. «Um etwas nachzuhelfen, hatte ich vorher als Professor Gert von Berg von der Psychiatrischen Universitätsklinik Münster bei meinem künftigen Chefarzt angerufen und den Bewerber Dr. Postel als ausnehmend tüchtigen Funktionsoberarzt, der gerade auf sozialpsychiatrischem Gebiet recht versiert sei, angepriesen. Da war ich natürlich in einer komfortablen Situation. Es gab neununddreißig Bewerber, davon gelangten acht in die engere Wahl. Vor der Bewerbungskommission hielt ich einen Vortrag über die Pseudologia phantastica am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull in der psychoanalytischen Diagnostik», berichtet Postel genüsslich. «‹Über was haben Sie eigentlich promoviert?›, fragte mich der Vorsitzende der Kommission bei der Einstellung. ‹Über kognitiv induzierte Verzerrungen in der stereotypen Urteilsbildung›, war meine Antwort. Diese sinnlose Aneinanderreihung von psychologischen Floskeln kam gut an. ‹Sie werden sich bei uns wohl fühlen›, versicherte mir daraufhin der Chefarzt. Ich wurde dann Leiter des Maßregelvollzugs, der psychotherapeutischen Abteilung und der Allgemeinpsychiatrie.»
    Die forensische Psychiatrie ist, so zeigten meine eigenen Erfahrungen, nicht ein Fach, in dem man einfach nur sein Lehrbuchwissen aus dem Medizinstudium anwenden kann. Man muss praktisch alles neu lernen, wenn man damit beginnt, und manche Probleme kann man nur mit dem gesunden Menschenverstand und nicht mit Bücherwissen lösen. Und dennoch stelle ich es mir heikel vor, ohne medizinische Vorkenntnisse in einer leitenden Position tätig zu sein.
    «Psychiatrische Diagnostik erschien mir nicht schwierig», entgegnet Postel. «Ich glaube, dass ich eine extrem entwickelte Intuition habe, die durch Fachwissen nicht zu ersetzen ist. Psychiater sind nicht sonderlich intelligent. Sie müssen nur die Sprache beherrschen, und dann können Sie das Gegenteil oder das Gegenteil vom Gegenteil beweisen … Alles, was Sie beherrschen müssen, ist Wortakrobatik, heiße Luft, 100 000  Watt … Diese Tätigkeit hätte mich auf Dauer intellektuell unterfordert. Auch eine dressierte Ziege kann Psychiatrie ausüben. Ich war nur ein Hochstapler unter Hochstaplern», amüsiert sich Postel über meinen Berufsstand.
    Ein
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