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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones?
Autoren: Craig Silvey
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Postkarte latschen. Am östlichen Ortsrand, hinter dem Bahnhof, mausern sich die Häuser wieder, und die Straßenlampen, an denen wir stumm vorbeigehen, beleuchten Rasenflächen und Gärten. Ich habe keine Ahnung, wohin wir unterwegs sind. Je weiter wir gehen, desto angespannter werde ich. Trotzdem hat es auch etwas Verwegenes, wach zu sein, wenn der Rest der Welt schläft. Als ob ich etwas wüsste, was die anderen nicht wissen.
    Wir sind eine Ewigkeit unterwegs, doch ich stelle keine Fragen. Irgendwo außerhalb der Stadt, jenseits der Brücke und dem breiten Teil des Corrigan River, wo die Felder anfangen, bleibt Jasper stehen, um sich eine Zigarette in den Mund zu schieben. Wortlos schüttelt er die zerknüllte Packung in meine Richtung. Ich habe noch nie geraucht. Und mir wurde auch mit Sicherheit noch nie eine Zigarette angeboten. Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Um gleichzeitig abzulehnen und trotzdem Eindruck zu schinden, lege ich beide Hände auf den Bauch und blase kopfschüttelnd die Backen auf, als wollte ich andeuten, heute Abend schon dermaßen viele gequalmt zu haben, dass ich einfach keine mehr mag.
    Jasper Jones hebt eine Augenbraue und zuckt die Achseln.
    Er dreht sich um und lehnt sich mit der Hüfte an einen Torpfosten. Während er an seinem Glimmstängel zieht, schaue ich an ihm vorbei und erkenne, wo wir sind. Ich weiche zurück. Geisterhaft im Mondlicht kauert drüben das verwitterte Cottage von Mad Jack Lionel. Hastig werfe ich einen Blick auf Jasper. Hoffentlich ist das nicht unser Ziel. Für die Kinder von Corrigan ist Mad Jack das Objekt wilder Spekulationen und Phantasien. Nicht eines hat ihn je wirklich zu Gesicht bekommen. Es gibt zwar einige Anwärter, die sich vollmundig irgendwelcher Sichtungen oder Begegnungen brüsten, doch sie werden leicht als Lügner enttarnt. Dennoch irrlichtern sämtliche Geschichten und Gerüchte um eine einzige unbestreitbare Tatsache: dass Jack Lionel vor einigen Jahren eine junge Frau umgebracht hat und seitdem nie mehr außerhalb seines Hauses gesehen wurde. Keiner von uns kennt die wahren Umstände der Geschichte, auch wenn regelmäßig neue Theorien auf den Markt geworfen werden. Natürlich haben Umfang und Art seiner Verbrechen im Laufe der Zeit immer schlimmere Ausmaße angenommen, sodass der Heuhaufen, in dem die Nadel steckt, ständig größer wird. Und so, wie die Legende immer weiterwächst, ergeht es auch unserer Furcht vor dem verrückten Killer im Versteck seines Hauses.
    Eine beliebte Mutprobe in Corrigan besteht darin, etwas von Mad Jack Lionels Grundstück zu stehlen. Steine, Blumen und Müll jedweder Art werden stolz und in aller Hast aus dem wuchernden trockenen Gras vor seinem Haus geholt, um anschließend staunend untersucht zu werden. Die seltenste und ruhmreichste Großtat besteht darin, von dem großen Baum, der neben Jack Lionels Cottage aufragt wie die aus dem Grab fahrende Hand eines Zombies, einen Pfirsich zu stehlen. Einen Pfirsich von Mad Jack Lionels Grundstück zu klauen und aufzuessen ist die Fahrkarte zu sofortigem Ruhm. Der Pfirsichkern wird als Andenken an die Heldentat aufbewahrt und allgemein bewundert und geneidet.
    Ich frage mich, ob wir hier sind, um Pfirsiche zu stehlen. Ich hoffe nicht. Ich habe zwar nichts gegen die Vorstellung, mein Ansehen zu stärken, doch fehlt es mir von Geburt an an Mut und Schnelligkeit; Eigenschaften, die für diese Operation unerlässlich sind. Außerdem weiß ich, dass, selbst wenn es mir auf wundersame Weise gelänge, einen Pfirsich zu ergattern, niemand, nicht einmal Jeffrey Lu, mir jemals glauben würde.
    Dennoch sehe ich, dass Jasper angestrengt zum Haus hinüberstarrt. Er schnippt seine Zigarette fort und tritt sie aus.
    «Sind wir da?», frage ich. «Wollten wir hierher?»
    Jasper dreht sich um.
    «Was? Nein, Charlie, ich wollte bloß eine rauchen.»
    Ich versuche mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen, während wir Lionels Grundstück inspizieren.
    «Glaubst du, dass alles stimmt, was über ihn gesagt wird?», frage ich.
    «Ich schätze schon. Meistens reden die Leute ja nur Bockmist, aber der Kerl ist mit Sicherheit verrückt.»
    «Ganz klar», sage ich und schniefe und spucke wieder. «Hundertprozentig.»
    «Ich hab ihn gesehen, weißt du. Schon ein paarmal.» Jasper sagt es so selbstverständlich, dass ich ihm glaube. Ich strahle ihn an.
    «Ehrlich? Wie sieht er aus? Ist er groß? Hat er wirklich eine lange Narbe im Gesicht?»
    Doch Jasper schiebt lediglich ein
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