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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Titel: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Autoren: Astrid Ruppert
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das Zimmer zu stellen. Am Anfang hatte sie sogar noch Rolfs Bettdecke mitbezogen. Doch mittlerweile ließ sie die Seite frei, auf der er geschlafen hatte, und benutzte sie als Ablage für ihre vielen Liebesromane, in denen sie Abend für Abend versank, um ein bisschen von dem Leben zu träumen, das sie selbst nicht hatte leben können. Und noch etwas war all die Jahre über konstant gleich geblieben: Annemie hatte sich an Rolfs Seite beinahe genauso einsam gefühlt wie nach seinem Tod. Fast hatte es sich sogar richtiger angefühlt, dass er nicht mehr da war. Denn die innere und die äußere Einsamkeit passten seitdem besser zusammen.
    Während Liz im Krankenhaus einen traumlosen, schmerzmittelgedämpften Schlaf schlief, in dem alles, was sie erlebt hatte, dem dumpfen Vergessen anheimfiel, warf sich Annemie die ganze Nacht über unruhig hin und her und schlief nur wenig. Wenn sie schlief, dann träumte sie für zwei. Annemie träumte die nichterholsame Art von Träumen. Die Art von Träumen, in denen man ganz klein vor einem großen Komitee stand, um geprüft zu werden, aber weil diese Prüfung viel zu früh stattfand, war man überhaupt noch nicht darauf vorbereitet; Träume, in denen eine ganze Gesellschaft voller Gäste in die Wohnung einfiel, und als Annemie die Speisekammer öffnete, um die kalten Platten herauszuholen, befand sich darin nur ein winziges Tellerchen mit einem einzigen zartrosafarbenen Petit Four, das sie dann beschämt zu den Gästen trug. Zum Glück wachte sie auf, bevor sie das Wohnzimmer erreichte.
    Als es allmählich anfing zu dämmern, gab sie den Gedanken an Schlaf völlig auf und stieg aus ihrem Bett, um dieser unruhigen Nacht ein Ende zu setzen. Normalerweise stand sie immer um die gleiche Zeit auf. Dazu benötigte sie keinen Wecker. Um fünf vor sieben öffnete sie automatisch die Augen, blieb aber noch im Bett liegen, bis sie um sieben Uhr die Kirchenglocken läuten hörte, und ging dann im Bademantel in die Küche, um sich ihren Kaffee zu kochen. Das machte sie seit zweiundvierzig Jahren so. In all diesen Jahren hatte es nur wenige Ausnahmen gegeben, an denen diese gewohnte Routine durcheinandergebracht worden war. Kein einziger dieser Tage war ein guter Tag gewesen. Und an keinen einzigen davon dachte sie gerne zurück. Annemie befürchtete, dass auch der heutige Tag dazugehören würde. Aber sie versuchte, jetzt nicht daran zu denken, sondern an ihrem gewohnten Ablauf festzuhalten. Auch wenn heute alles fast zwei Stunden früher stattfand als sonst. Sie stellte die Kaffeemaschine an und schnitt sich zwei Scheiben Brot ab. Annemie frühstückte immer zwei süße Scheiben Brot, und deshalb hatte sie stets zwei Marmeladen geöffnet. Eine helle und eine dunkle. Im Moment waren es zwei Gläser mit goldenem Quittengelee und dunkelvioletter, fast schwarzer Brombeermarmelade. Selbstgemacht natürlich. Auf Annemies Frühstückstisch hatte noch nie ein Glas gekaufter Marmelade gestanden. Während die Kaffeemaschine glucksend durchlief, deckte sie den Tisch. Darauf legte sie Wert, auch wenn sie seit Rolfs Tod alleine dort saß. Sie stellte sich einen hübschen Teller hin, legte eine gefaltete Serviette daneben und platzierte das Besteck exakt parallel zu deren Kante. Als der Kaffee fertig war, goss sie ihn in eine passende Tasse und holte zuallerletzt die Butter aus dem Kühlschrank. Wenn sie etwas nicht mochte, dann war das weiche Butter. Als Rolf noch lebte, hatte sie stets zwei Butterdosen gehabt. Denn Rolf mochte keine harte Butter. Er hasste es, wenn sie sich nicht so streichen ließ, wie er es wollte. Die Dose mit ihrer Butter hatte im Kühlschrank gestanden und Rolfs Butter neben dem Brotkasten. Doch dieser Platz war nun seit einigen Jahren leer. Genau wie das halbe Ehebett im Schlafzimmer und der Fernsehsessel im Wohnzimmer.
    Sie setzte sich an den Küchentisch und begann darüber nachzudenken, was sie gleich alles zu erledigen hätte. Nach der zweiten Tasse Kaffee und den beiden Broten fühlte sie sich schon eine Spur besser, aber noch lange nicht bereit für die Aufgaben, die heute vor ihr lagen. Wobei Annemie genau wusste: Sie würde sich diesen Aufgaben niemals gewachsen fühlen, auch wenn sie noch so viele Tassen Kaffee trinken würde. Sie glaubte einfach nicht, dass sie so etwas überhaupt konnte.
    Das erste Problem, das sich ihr stellte, war das der passenden Garderobe. In Annemies Schrank befanden sich eine Menge Kleider »für zu Hause«. Ihre Mutter hatte ihr noch beigebracht,
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