Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Kinder allein aufgezogen. Roswitha war sicher, hätte sein Vater unter dem Fenster gestanden, wäre es glaubwürdig gewesen. Aber warum sollte er dem Ruf einer Mutter folgen, die er kaum gekannt hatte?
Wladimir lag immer im Bett, wenn Roswitha kam. Er las nicht, er sprach nicht, und als Roswitha einmal eine Unterschrift von ihm brauchte, hielt er den Stift hilflos wie ein Erstklässler und es gelang ihm erst nach mehrmaligem Ansetzen, seinen Namen aufs Papier zu bringen.
Schon wenn Roswitha im Bus saß, der von der Stadtgrenze die lange Straße bis hin zur Klinik fuhr, begann sie sich vor dem, was kommen würde, zu fürchten. Der Klinikbau mit seinem roten Klinker und grau verputzen Wänden wirkte trostlos. Die Gänge waren mit braunem Linoleum ausgelegt, und die Wände hatten einen grünen Ölsockel. Überall summten Neonröhren. Das kalteLicht verstärkte die Trostlosigkeit. Auf der gesamten Station waren die Fenster vergittert, und die Eingangstür war verschlossen. Roswitha musste klingeln, wenn sie Wladimir besuchen wollte. Es war ihr erlaubt, mit ihm nach draußen zu gehen. Obwohl es ein sehr kalter Winter war, versuchte sie jeden Tag, mit ihm einen Spaziergang zu machen.
Zum Klinikgelände gehörte ein Park mit einem alten Baumbestand. Doch die Bäume mit ihren dunklen Stämmen und kahlen Ästen verstärkten nur das Gefühl der Traurigkeit. Es war, als hätte sich auch die Natur gegen Roswitha verschworen. An den umzäunten Park grenzte eine Kleingartenanlage, danach kam eine Wohnsiedlung. Vom Park aus gab es einen Trampelpfad durch eine Zaunlücke. Es war anzunehmen, dass in der Wohnsiedlung Personal aus der Klinik wohnte. Roswitha stellte sich vor, was das für ein Leben sein musste, wenn man täglich zwischen Plattenbau und Nervenheilanstalt pendelte und es sich an seinen freien Tagen im Niemandsland gemütlich machte. Jetzt im Januar waren die Fensterläden der Lauben geschlossen und die Türen mit Eisenriegeln und Vorhängeschlössern gesichert. Auf den Terrassen standen die Metallskelette der Hollywoodschaukeln, manche waren mit Kartoffelsäcken abgedeckt, als müssten die Metallstreben gewärmt werden. Die Gärten waren im Winterschlaf erstarrt. Überall lagen vertrocknete Pflanzenreste und Laub. Doch es gab eine Ausnahme. In einem Garten wuchs Rosenkohl. Um die hohen, abgestützten Stängel zogen sich spiralförmig kleine grüne Röschen. Der heldenhafte Rosenkohl trotzte dem Winter.
Wladimirs Zustand verschlechterte sich weiter. Er lag in seinem Bett und starrte den ganzen Tag vor sich hin. Roswitha brauchte alle Kraft, die sie besaß, um sich ihr Unglück nicht anmerkenzu lassen. Sie setzte sich neben sein Bett und erzählte ihm von Oskar, der seinen ersten Schnee erlebt hatte und gar nicht mehr aufhören wollte, sich über die Wiese zu rollen. Sie erzählte ihm von den Seminaren an der Hochschule und ihrem neuen Projekt, einem Zyklus über Licht und Schatten. Sie erzählte so beiläufig, dass Wladimir das Gefühl haben sollte, sie säßen zu Hause am Küchentisch. Wenn sie die Station verließ, fiel alle Kraft von ihr ab, und sie musste eine Zeit lang durch die Dunkelheit laufen, bis sie sich wieder unter Menschen trauen konnte.
Zu Hause fand sie Trost in der Musik und in Büchern. Sie fühlte sich in den schrecklichen Schicksalen der anderen verstanden. Genaugenommen bestand der größte Teil der Literatur aus dem Beschreiben von Elend. Sie liebte die Geschichten, in denen die furchtbarsten Dinge so erzählt wurden, dass man am Ende noch lachen konnte. Ihre Lieblingsgeschichte war »Ein Engel Namens Levine« von Bernard Malamud.
Sie litt mit dem Schneider Manischevitz, der, als sein Geschäft abbrannte, über Nacht seine ganze Habe verlor. Zur gleichen Zeit fiel sein Sohn im Krieg, und seine Tochter heiratete einen Taugenichts. Der Schneider bekam ein Rückenleiden, und seine Frau wurde schwer krank.
Eines Abends saß plötzlich ein Mann am Küchentisch und gab vor, ein Engel zu sein, genauer: »Ein echter Engel Gottes innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen.« Zum Entsetzen des Schneiders war der Engel schwarz und zudem noch ein Jude. Ein schwarzer jüdischer Schutzengel? Niemals! Das konnte der Schneider nicht akzeptieren. Zudem war es ein Engel, der sich »auf Bewährung« befand«. Der Schneider bezichtigte den Engel, ein Schwindler zu sein, und warf ihn aus der Wohnung.
Danach wurde alles noch schlimmer. Die Rückenschmerzennahmen zu, das Siechtum der Frau auch. Der verzweifelte
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