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Wenn Die Seele Verletzt Ist

Wenn Die Seele Verletzt Ist

Titel: Wenn Die Seele Verletzt Ist
Autoren: Christiane Sautter
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emigrierte mit seiner Familie in die USA und wirkte seitdem an der berühmten Menninger-Klinik in Topeka. So wie Simmel erging es den anderen Kollegen, die nach der Methode des „Juden Freud“ arbeiteten oder gar selbst Juden waren. Konnten in den USA die Psychiater und Therapeuten auf bereits vorhandenes Wissen zurückgreifen, wurde die Psychiatrie in Deutschland während des Naziregimes zu einem Ort des Schreckens, der sich vor allem um drei Hauptaufgaben kümmerte:
     
    • um die Verhütung erbkranken Nachwuchses durch Zwangssterilisation von etwa 360.000 Patienten;
    •um das Euthanasie-Programm, bei dem über 100.000 psychisch kranke Menschen ermordet wurden, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen und der Sowjetunion;
    •um die Kinderaktion, bei der Tausende geistig- und/oder körperbehinderte Kinder ermordet wurden.
     
    Da es immer weniger Patienten gab, kam Deutschland mit immer weniger Psychiatrien aus. Diese wurden in Lazarette umgewandelt, und so fehlte es sowohl an Personal wie an Gebäuden, ganz zu schweigen von der therapeutischen Lücke, die das Verbot der „Psychoanalyse“ hinterließ.
    Das Naziregime war psychiatriefeindlich, doch ist die Ablehnung dieser Einrichtung nicht allein auf Hitlers Mist gewachsen. Hitler stützte sich auf Charles Darwin, der 1859 die Lehre von der natürlichen Auslese propagiert hatte, in dem Sinne, daß die Stärkeren die Schwächeren besiegen und dadurch die Rasse kräftigen. Darwin schreibt: „Unter den Wilden werden die an Körper und Geist Schwachen bald eliminiert; die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftigster Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen tun dagegen alles Mögliche, um diese Ausscheidung zu verhindern. Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke...“ Der Sozialdarwinismus traf im Dritten Reich auf offene Ohren und wurde pflichtgetreu umgesetzt. Verletzte Soldaten, die vermutlich wieder fronttauglich werden würden, erhielten die beste Pflege und die reichhaltigste Nahrung. Dies geschah auf Kosten der Menschen, die in psychiatrischen Krankenhäusern lebten. So kam die Einweisung in eine deutsche Psychiatrie damals fast einem Todesurteil gleich.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland keine funktionierende Psychiatrie und keine Psychotherapie mehr. Das Deutsche Reich und die deutsche Ehre existierten nicht mehr. Aus Angst vor Verfolgung breitete sich in deutschen Familien das „große Schweigen“ aus. Die Deutschen galten international als Täter, und Täter hatten kein Recht darauf, sich um eigene eventuell vorhandene seelische Wunden zu kümmern. Die vertriebenen geflüchteten und ausgebombten Zivilisten, die vielen Menschen, die um getötete Angehörige trauerten, und die vielen tausend durch Front und Gefangenschaft gebrochenen Soldaten durften gar nicht traumatisiert sein. Es sollte noch runde fünfundvierzig Jahre dauern, bis die Deutschen es wagten, ihr besonderes Trauma anzugehen.
    Ganz anders in den USA und in Israel, wo die Überlebenden der Konzentrationslager intensiv betreut wurden. Da die Insassen dieser Lager vor ihrer Verschleppung hinsichtlich ihrer Gesundheit „ganz normale“ Bürger gewesen waren, stellten sie für die Wissenschaftler eine sogenannte „relevante Stichprobe“ der Bevölkerung dar. („Relevante Stichprobe“ ist ein Begriff aus der Statistik, der bedeutet, daß die untersuchten Teilnehmer einer Studie völlig willkürlich ausgesucht werden und so eine gewisse Objektivität des Untersuchungsergebnisses gewährleistet ist.) Bei allen Opfern wurde festgestellt, daß sie körperlich und seelisch schwer geschädigt waren. Alle konnten in ihrem späteren Leben schlechter mit Belastungen umgehen, die Immunlage war grundsätzlich schwächer und sie erreichten ein weniger hohes Lebensalter.
    Besonders israelische Therapeuten befaßten sich mit dem Phänomen der Weitergabe oder Übertragung von Traumata. Sie stellten fest, daß die Kinder der KZ-Überlebenden ebenfalls an Traumasymptomen litten, und zwar unabhängig davon, ob die Eltern mit ihnen über ihre Erlebnisse im KZ gesprochen hatten oder nicht. Kurt Grünberg zeigt in seinem Aufsatz „Tradierung des Nazitraumas und Schweigen“ am Beispiel einer jüdischen Klientin, die sich später umbrachte, auf, wie das Klima in der Familie vom Trauma der Eltern, die überhaupt nicht darüber sprachen, so sehr geprägt war, daß die Tochter selbst traumatisiert wurde und den Mut zum Weiterleben verlor. Nachkommen von Opfern gelingt es oft
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