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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Reichtum auf und akkulturiert ihn. Für die Frauen und Männer hierzulande bedeutet dies, dass sie von der reproduktiven Funktion entlastet, nun noch mehr Zeit für Bildung, Wissenschaft, Beruf, Weltpolitik und Weltmoral aufbringen können. Darin könnte sich die Aufgabe Europas abzeichnen – in einer Weltarbeitsteilung, die weit über die ökonomische Sphäre hinausgeht. In zynischer Zuspitzung: Das Kinderkriegen (und ein Großteil der harten Arbeit) besorgen die anderen. Wir kümmern uns darum, dass sie im europäischen Geist groß werden. (Dass dies nicht bruchlos gelingt, versteht sich von selbst.)
    Der Gedanke, dass fortschreitende Arbeitsteilung sich weltweit nicht nur auf Güter und Dienste, sondern auch auf politische, militärische, moralische Leistungen, ja schließlich sogar auf das Bekommen von Kindern erstrecken könnte, ist mehr als befremdlich. |264| Zum einen widerstrebt es dem tief verwurzelten Vorrang, den wir eigenen Kindern zuschreiben. Zum anderen verstößt es gegen unsere Gewohnheit, unser soziales Leben im nationalen Rahmen zu begreifen. Insbesondere im Hinblick auf die Reproduktion denken wir uns den eigenen Nationalstaat als autark. Das zeigt sich daran, dass die Fertilitätsraten, die die gegenwärtige Diskussion beflügeln, immer als deutsche, französische, schwedische, japanische angezeigt werden und Unruhe stiften.
    Aber so wenig wir in Bezug auf Südfrüchte, Energie oder militärischen Schutz autark sind, so wenig sind wir es in Bezug auf den eigenen Nachwuchs. Längst lassen wir auch die lebendigen Träger westlicher Lebensformen anderswo »herstellen«. Was wir im Gegenzug an Waren, Wissen und Werten liefern, ist schwer auszumachen. Die Aufgabenteilung zwischen den Kulturen ist überaus vielgestaltig, meist unbewusst und – es muss immer wieder betont werden – von niemandem geplant.
    Die neue Arbeitsteilung zwischen produktiven und reproduktiven, kinderarmen und kinderreichen Gesellschaften gilt womöglich nur für eine Übergangsphase von weniger als 100 Jahren. So lange wird es dauern, bis alle Gesellschaften nicht nur ähnlich niedrige Geburtenraten erreichen, sondern auch die »Kinderberge« der vorherigen, umfangreicheren Generationen abgebaut haben. Nach und nach werden alle Kulturen sich umstellen: von einer breiten Reproduktionsbasis mit hoher Sterblichkeit auf eine schmale Basis lange lebender Individuen; von einem risikoreichen auf ein verhältnismäßig sicheres Leben; von einer biologischen Entwicklungsstufe, in der die schiere Zahl der reproduzierten Organismen über den Fortbestand der Spezies entschied, zu einer soziokulturellen Stufe der Evolution, in der die Teilung der sozialen Aufgaben die Fähigkeit der menschlichen Spezies, Probleme zu lösen, ins Unermessliche steigert.
    Dass damit Probleme auch stets neu auftreten, ist die Kehrseite der Medaille. Der Wettlauf von Problemen und Problemlösungen führt nicht ins schöne Land Utopia. Aber er wird auch nicht durch |265| Geburtenzahlen oder, wie die modischen Massenmarathons, durch die große Zahl der Mitläufer entschieden.
    In der Weltgesellschaft braucht deren modernster Teil nicht mehr Nachwuchs, als er aus sich selbst und aus dem Rest der Welt ohnehin bekommt. Zumindest braucht er keine Kindersubventionspolitik. Seine unterschiedlichen Lebenssphären – Wirtschaft, soziale Sicherheit, Wissenschaft, Politik, Religion, Familie, Kultur – verfügen über eine erstaunliche Fähigkeit, sich selbst auch mit weniger Menschen zu reproduzieren. Wie von allein wachsen sie dabei über den nationalen Rahmen hinaus, dessen Scheuklappen wir nicht ohne weiteres ablegen können. Sich selbst überlassen, entwickeln soziale Systeme als Problemlöser womöglich einen Erfindungsreichtum und gegenseitige Inspirationen, die der Moderne würdig sind. Dazu kann auch ein Wiederanstieg der Geburtenrate gehören. Sollte es so sein, dann wird er allerdings aus dem unbewussten Zusammenspiel vieler Systeme geboren werden und nicht aus den Berechnungen und Mahnungen demografischer, politischer, kirchlicher oder anderer Autoritäten.
    Die Gesellschaft selbst weiß mehr als jede einzelne Autorität. Es wäre vermessen, ihr dieses Wissen abgewinnen und es auf Flaschen ziehen zu wollen, um es dann als Worte großer Bücher oder Gedanken großer Geister herumzureichen. Wir können allerdings, in kleinen Schritten, die Mechanismen zu begreifen versuchen, nach denen sich Gesellschaft bildet und entwickelt. Unternehmen wir diesen Versuch, und
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