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Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe

Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe

Titel: Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Autoren: Thomas Görden
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pulsierte Traumwolfs Kraft in ihrem Blut.
    Sie war kein unbeholfener Mensch mehr, der ohne Taschenlampe durch finsteres Dickicht stolperte, sondern ein Waldwesen, verschmolzen mit der Dunkelheit. Ihre Nase witterte die Düfte der Nacht, sie hatte Wolfsaugen und Wolfsohren, und sie lief mit Wolfskraft in ihren Schenkeln, geschmeidig und lautlos wie ein silberner Schatten.
    Jetzt war die Nacht hell, und das Licht der Sterne, das sich in Chris‘ geweiteten Pupillen fing, ließ die Konturen aller Dinge deutlich hervortreten. Alle Furcht war vergessen. Furcht bestand aus sinnlos kreisenden Gedanken, doch in Chris gab es jetzt nur Wachheit, die Wachheit der wandernden Wölfin, völlig eins mit ihrer Umgebung. Sicher fanden ihre Füße den Weg. Kein Tier floh vor ihr, denn sie war ein Teil ihrer Welt. Während die Sterne allmählich verschwanden und Licht den Himmel füllte, schritt Chris fest und stetig zwischen den Bäumen bergan. Als sie aus dem Wald trat und auf die baumlose, grasbewachsene Kuppe des Dachsberges stieg, ging die Sonne auf.
    Dort oben bei den Hügelgräbern, wo man weit über das Land schauen konnte, saß Gablenz mit dem Rükken an einen mächtigen, verwitterten Stein gelehnt, der entweder vom Himmel gefallen oder von den Menschen der Urzeit dort eingepflanzt worden war. Gablenz blutete aus mehreren Schußwunden. Offenbar hatten doch nicht alle Kugeln ihr Ziel verfehlt.
    Die überlebenden Wölfe lagen ringsherum im Gras und ruhten sich aus. Sie schauten Chris aus ihren gelben Augen wie eine vertraute Schwester an.
    „Ich bin gekommen, um meine Bestimmung zu erfüllen“, sagte Chris, und die Kraft des Wolfes in ihr bewirkte, daß sie kaum außer Atem war.
    Gablenz drehte den Kopf und sah Chris an. Ein dünner Blutfaden rann ihm aus dem Mundwinkel hinunter zum Kinn. Mit seinem aschfahlen Gesicht und all dem Blut, das aus seinen Wunden sickerte, schien sein Körper mehr tot als lebendig zu sein, aber seine Stimme klang volltönend und fest, und Chris wußte, daß der Geist des Bärenwesens aus ihm sprach.
    „Von hier oben kann man das Land überschauen, das ich in deine Obhut gebe.“ Er hob den rechten Arm und vollführte damit eine langsame, weitausholende Geste. „Von den Wiesen und Feldern um Jünkersdorf und Bühlingen im Osten und um Wiesbach und Heidehof im Westen, vom Itzwald und dem Itzbachtal und der Wachholderheide, die du so liebst, im Süden bis zu den Auen der Altwasser und dem Buchfelder Staatsforst, wo der Erde diese häßliche Wunde geschlagen wurde, im Norden - dieses Land, das du von hier oben sehen kannst, gebe ich in deine Obhut, Schwester Wolfsträumerin.“ Er hustete und spuckte etwas Blut, das den Hemdkragen rot färbte.
    Chris fragte: „Noch kann ich meine Bestimmung nicht klar erkennen. Was bedeutet es, daß du dieses Land in meine Obhut gibst?“
    Mit ihrem Alltagsgesicht sah Chris die rauhe Maserung des Steins und Gablenz‘ daran gelehnten verblutenden Körper. Zugleich nahm ihr zweites Gesicht andere Bilder wahr, Bilder aus einer fernen Zeit. Sie sah Ochsengespanne und Reiter auf der alten Römerstraße, die über die Eifelhöhen geführt hatte. Sie sah weißgekleidete keltische Druiden, Frauen und Männer, die unter mächtigen Bäumen Rituale vollzogen.
    Wieder sprach die Stimme des Bärenwesens aus Gablenz‘ Mund, leiser jetzt, da der Körper offenbar zu schwach wurde, die Energie des Wesens in sich zu tragen. „Die alten Völker, die früher hier lebten, wußten noch, daß sie vom Land abhängig sind. Sie bemühten sich um Harmonie mit allen Geschöpfen und besaßen Rituale und Gebete, mit denen sie den Tieren und Pflanzen für ihre Hilfe dankten. So erhielten sie den Kreislauf der Energie lebendig. Sie erfüllten ihre Pflichten gegenüber dem Land und erfreuten sich dankbar an seinen Gaben.“
    Chris sah eine Frau, jung und blond, die ihr selbst aufs Haar glich. Sie wurde von Männern in braunen Mönchskutten an einen Pfahl gebunden, unter dem Feuerholz aufgeschichtet war. Der verzweifelte Ausdruck im Gesicht der Frau schnitt Chris ins Herz. Die Stimme wurde noch leiser. Gablenz‘ Kopf neigte sich zur Seite. Seine Lippen zitterten beim Sprechen. „Die letzten Hüterinnen des Landes sind vor Jahrhunderten auf den Scheiterhaufen gestorben. Seither ist die Verbindung zwischen Land und Menschen immer schwächer geworden. Euch bleibt keine Wahl. Entweder ihr kehrt um, oder ihr verschwindet für immer vom Antlitz der Erde.“
    Chris sah ein verkarstetes, wüstes Land,
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