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Wende

Wende

Titel: Wende
Autoren: S Greenblatt
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Hauptwörter aufschreiben, und so soll er angehalten werden, auch wenn er nicht mag, lesen zu lernen. 4
    »Auch wenn er nicht mag, lesen zu lernen« – genau dieser Zwang war ein Grund, warum die Errungenschaften des antiken Denkens über Jahrhunderte hinweg bewahrt wurden.
    In der einflussreichsten aller Klosterregeln, die im sechsten Jahrhundert niedergelegt wurden, hat der heilige Benedikt keine ausdrücklichen Anforderungen hinsichtlich der Schreib- und Lesefähigkeit von Mönchen formuliert, aber er sorgte für ein Äquivalent: Ein gewisser Teil des Tages war für das Lesen – für die »heilige Lesung«, wie er dies nannte – vorgesehen, so wie ein anderer für körperliche Arbeit. »Müßiggang« hielt der Ordensgründer für »der Seele Feind«, achtete also darauf, dass die Stunden des Tages ausgefüllt waren. Auch zu bestimmten anderen Tageszeiten war den Mönchen das Lesen erlaubt, wobei dieses freiwillige Lesen in strikter Stille geschehen sollte. (In der Regel wurde zu Benedikts Zeiten, wie auch während der gesamten Antike, laut gelesen.) An den vorgeschriebenen Lesezeiten allerdings war nichts freiwillig.
    Die Mönche mussten also lesen, ob ihnen danach war oder nicht; und die Regel verlangte, dass dies auch streng überwacht wurde:
    Vor allem aber bestimme man einen oder zwei Ältere, die zu den Stunden, da die Brüder für die Lesung frei sind, im Kloster umhergehen.
Sie müssen darauf achten, ob sich etwa ein träger Bruder findet, der mit Müßiggang oder Geschwätz seine Zeit verschwendet, anstatt eifrig bei der Lesung zu sein; damit bringt einer nicht nur sich selbst um den Nutzen, sondern lenkt auch andere ab. 5
    Die deutsche Fassung setzt nicht ganz treffend »träge« für das lateinische acediosus. Dieses Wort nämlich verweist über acedia  – »Lauheit«, »Überdruss« und »Angst des Herzens« – auf einen bedenklichen Gemütszustand, der typisch war für klösterliche Gemeinschaften, eine Krankheit, die Johannes Cassianus, der Wüstenvater, schon Ende des vierten Jahrhunderts treffend und anschaulich diagnostiziert hatte. Wenn, so schreibt er, dieser Geist von der Seele eines Mönchs Besitz ergriffen habe, werde es diesem schwerfallen, wo nicht unmöglich sein, sich auf das Lesen zu konzentrieren. Vielmehr werde er den Blick von seinem Buch lösen, versuchen, sich mit Geschwätz abzulenken, eher noch mit Abscheu in seiner Umgebung umherschauen, seine Mitbrüder betrachten, sich dabei gewiss vorstellen, dass die Dinge andernorts besser seien, dass er sein Leben vergeude und nun, wo alles so schal und sinnlos sei, seinen Geist, sein Seelenheil verlieren werde.
    So blickt er ängstlich bald hierhin, bald dorthin und klagt, daß gar kein Mitbruder zu ihm komme, geht öfter aus der Zelle und wieder hinein und schaut häufig nach der Sonne, als ob sie zu langsam dem Untergange zueile. Und so lagert sich, wie auf die Erde der Nebel, über seinen Geist gewissermaßen eine vernunftlose Verwirrung. 6
    Dieser Mönch – und offenbar ist es damals vielen so ergangen – litt an dem, was wir den klinischen Zustand einer Depression nennen würden. Cassian nannte diese Krankheit »den Mittagsdämon«, und die Benediktusregel sieht, insbesondere während der dem Lesen gewidmeten Zeit, eine genaue Überwachung der Mönche vor. Alle, die verdächtige Symptome zeigten, sollten ausfindig gemacht werden.
    Wird ein solcher, was ferne sei, ertappt, werde er einmal und ein zweites Mal zurechtgewiesen.
    Bessert er sich nicht, treffe ihn die von der Regel vorgesehene Strafe so, dass die anderen sich fürchten (ut ceteri timeant) . 7
    Eine Weigerung, zu den vorgeschriebenen Zeiten zu lesen – ob aus Ablenkung, Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung –, wurde also zunächst klosteröffentlich kritisiert und dann, wenn dies nichts fruchtete und der
Mönch bei seiner Verweigerungshaltung blieb, durch Schläge geahndet: Mit körperlichem Leiden sollten die Symptome des psychischen Leidens ausgetrieben werden. Nach angemessener Züchtigung würde der betrübte Mönch – zumindest im Prinzip – zu seiner »heiligen Lesung« zurückfinden.
    Es gab noch eine weitere Zeitspanne, in der die benediktinische Regel eine Lesung vorsah: während der gemeinsamen Mahlzeit. Ein Bruder hatte dann die Aufgabe, den anderen laut vorzulesen: »Doch soll nicht der Nächstbeste nach dem Buch greifen und lesen, sondern der vorgesehene Leser beginne am Sonntag seinen Dienst für die ganze Woche.« Benedikt hat wohl
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