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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten
Autoren: Dan Wells
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schaltete in die höheren Gänge und stellte sich sogar auf die Pedale. Ich strengte mich an, um den Anschluss nicht zu verlieren, und der Wind schlug mir wie ein kühles Tuch ins Gesicht. Marci war sehr schnell, und als ich ihre Beine in Aktion sah, wurde mir klar, dass sie vermutlich viel besser in Form war als ich. Außerdem fand ich es bald gar nicht so übel, einige Radlängen hinter ihr herzufahren.
    Früher hatte ich Regeln befolgt, was das Beobachten von Mädchen anging: Ich hatte es mir einfach nicht gestattet. Mein halbes Leben hatte ich in Angst vor meinen eigenen Gedanken verbracht, vor der dunklen Seite, die in mir lauerte und bereit war, jederzeit hervorzubrechen und mich völlig zu überwältigen. Ich hatte davon geträumt, meine Freunde und Angehörigen zu töten, ich hatte Tag und Nacht Phantasien gehabt, wie ich Menschen, die mir auf der Straße begegneten, einfangen, fesseln und foltern könnte. Ich hatte mir sogar vorgestellt, Marci einzubalsamieren. Etwas in mir sehnte sich nach Blut und Schmerzen. Nicht, weil ich das mochte, sondern weil sich der Drang auf keine andere Weise stillen ließ. Normale Gefühle wie alle anderen Menschen kannte ich nicht. Liebe und Freundlichkeit waren mir fremd, während die unangenehmeren Gefühle wie Hass, Furcht und Neid viel zu dicht unter der Oberfläche tobten. Wenn ich ein starkes, lebhaftes Gefühl haben wollte, dann war Gewalt so ziemlich das einzige Mittel, um dies zu erreichen. Offensichtlich war es also kein guter Einfall, mich mit einem Mädchen einzulassen.
    Brooke hatte einen Blick auf diesen Abgrund in mir erhascht, als sie vor ein paar Monaten in Formans Haus gefangen gewesen war. Verletzt hatte ich sie nicht, doch sie hatte es gesehen. Seitdem hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen.
    Inzwischen war ich allerdings ein echter Dämonenjäger, und das änderte alles. Meine dunkle Seite hatte ein gutes Ventil bekommen, und meine nächtlichen Träume handelten vom heldenhaften John, dem Eroberer, der alle bösen Wesen auf der Welt tötete – und falls ich das Töten ein wenig mehr als nötig genoss, nun ja, das war mein gutes Recht. Es tat niemandem weh außer den Dämonen, und es ging ja gerade darum, ihnen wehzutun. Dank dieser Veränderung konnte ich viele meiner Regeln fallen lassen und zum ersten Mal das Leben genießen – mit Menschen reden, Dämonen jagen, Mädchen hinterhersehen. Ich war frei.
    Langsam und vorsichtig ließ ich den Lenker los und breitete die Arme weit aus. Marci warf einen Blick zurück und folgte meinem Beispiel. Wir stießen Begeisterungsrufe aus und rasten die Straße entlang. Ich schloss die Augen und spürte den scharfen Fahrtwind im Gesicht; er schmeckte nach Gefahr und Erregung. Hinter uns verschwand die Stadt, vor uns lag die Wildnis, und die Straße führte geradewegs ins Nirgendwo.
     

FÜNF
     
    »Na, wie war dein Date?«
    »Schön.«
    Es war der nächste Morgen, und ich wollte vor allem in Ruhe frühstücken. Mom dagegen war damit beschäftigt, Mom zu sein.
    »Wo wart ihr denn?«
    »Wir waren einfach unterwegs«, antwortete ich. »Nichts Besonderes.« Das entsprach sogar der Wahrheit, es war wirklich nichts weiter passiert. Wir waren eine Weile mit den Rädern umhergefahren, und das hatte mir sogar Spaß gemacht, aber es ist eben schwierig, sich zu unterhalten, wenn man im Abstand von zehn Metern auf einem Radweg fährt. Damit hatte ich keine Probleme gehabt, weil es mir sowieso immer schwerfiel, mit Menschen zu reden, aber Marci hatte sich vermutlich furchtbar gelangweilt.
    »Nun, das ist auf jeden Fall besser als gar nichts.« Mom stand im Flur und bearbeitete ihr Haar mit einem elektrischen Frisierstab, während ich in der Küche eine Schale Müsli aß. »Du bist noch nie mit ihr ausgegangen, also war es doch etwas Besonderes.«
    »Ich hatte sowieso noch nicht so viele Dates.«
    »Dann ist es sogar noch bedeutsamer. Du bist mit dem Fahrrad und nicht mit dem Auto gefahren, daher wart ihr wohl mit den Rädern unterwegs.«
    »Nein, ich bin gar nicht damit gefahren, sondern habe es bis zu ihrem Haus geschoben und dann auf der Veranda stehen gelassen.«
    »Sei nicht so affig.«
    »Und dann«, fuhr ich fort, »musste ich sie tragen, weil wir kein Auto dabei hatten.«
    Mom lächelte. »Dann war es ja nicht ganz umsonst.«
    »Was?«
    »Was fragst du noch? Ich erkenne doch ein heißes Mädchen auf tausend Meter Entfernung.«
    »Solche Kommentare höre ich von meiner Mutter gar nicht gern.«
    Sie verschwand im Bad,
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