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Wellenbrecher

Titel: Wellenbrecher
Autoren: Minette Walters
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in einer Staubfahne zurückließ.
     
    Nach einem Notruf, der per Handy bei der Polizeidienststelle eingegangen war, traten die Rettungsdienste sofort in Aktion. Der Anrufer hatte seinen Namen mit Steven Harding angegeben und erklärt, er hätte zwei Jungen getroffen, die behaupteten, am Strand von Egmont Bight läge eine Verunglückte. Die Einzelheiten waren reichlich verworren, da die Jungen in ihrem offenkundigen Entsetzen und ihrer Aufregung nicht in der Lage gewesen waren, vollständig Bericht zu erstatten, und außerdem zu erwähnen vergessen hatten, daß die Verunglückte nackt war. Daher hatte Harding den Eindruck gewonnen, daß es sich bei der ›Frau am Strand‹ um die Mutter der Jungen handelte, die von den Felsen gestürzt war. Polizei und Küstenwache handelten also in der Annahme, sie wäre noch am Leben.
    Da es äußerst schwierig war, einen Schwerverletzten vom Strand zu bergen, entsandte die Küstenwache einen Such- und Rettungshubschrauber aus Portland, der die Frau aus der Luft bergen sollte. Gleichzeitig näherte sich Police Constable Nick Ingram der Unfallstelle auf dem Fußweg, der sich am unpassend benannten West Hill auf der Ostseite von Chapman’s Pool hinzog. Er hatte die Kette des Schlosses an der Schranke in Hill Bottom mit einem Bolzenschneider durchtrennen müssen, und als er jetzt seinen Range Rover auf dem befestigten Abstellplatz neben den Bootshäusern der Fischer zurückließ, hoffte er aus tiefster Seele, daß ihm keine Neugierigen gefolgt waren. Er war nicht in der Stimmung, sich mit dreisten Schaulustigen herumzuschlagen.
    Der einzige Zugang von den Bootshütten zu dem Strandabschnitt, auf dem die Frau lag, war der Weg, den auch die Jungen genommen hatten - ein Wanderweg rund um die Bucht, gefolgt von einer Kletterpartie über die Klippen bei Egmont Point. In Uniform war das ein beschwerliches und schweißtreibendes Unternehmen, und Nick Ingram, über einen Meter neunzig groß und gut und gern seine hundert Kilo schwer, war naßgeschwitzt, als er die Verunglückte erreichte. Die Hände auf die Knie gestützt, beugte er sich vornüber, um wieder zu Atem zu kommen, und horchte auf das ohrenbetäubende Geknatter des nahenden Hubschraubers. Er empfand das Geräusch als eine abscheuliche Störung an diesem Ort, der offenkundig ein Ort des Todes war. Trotz der Hitze fühlte sich die Haut der Frau kalt unter seiner Hand an, und die aufgerissenen starren Augen hatten schon begonnen, sich zu trüben. Ihm fiel auf, wie klein und zerbrechlich sie wirkte, so ganz allein hier am Fuß der hohen Felswand, und wie traurig und kindlich ihre Hand anmutete, die sich in der Gischt hin und her bewegte.
    Zu seinem Erstaunen sah er, daß sie nackt war, und er wunderte sich noch mehr, als ein schneller Blick über den Strand ihm zeigte, daß nirgends Handtücher, Kleider oder Schuhe herumlagen. Er bemerkte die Blutergüsse an ihren Armen, am Hals und an der Brust, aber sie schienen eher von einem unfreiwilligen Bad in der starken Brandung und einem Aufprall gegen die Felsen herzurühren als von einem Sturz von der Klippe. Wieder beugte er sich über die Tote, in der Hoffnung, vielleicht einen Hinweis darauf zu finden, wie sie hierhergekommen war, und sprang dann hastig zurück, als die Trage, die vom Hubschrauber aus heruntergelassen wurde, gefährlich dicht über seinem Kopf pendelte.
    Der Rotorenlärm des Hubschraubers und die durch ein Mikrofon verstärkte Stimme des Mannes am Flaschenzug, der dem Polizeibeamten unten am Strand Anweisungen zuschrie, hatten Schaulustige angelockt. Die Wandergruppe sammelte sich oben auf dem Felsen, um die aufregenden Ereignisse zu verfolgen, und die Leute von den Jachten in Chapman’s Pool fuhren in ihren Beibooten hinaus, um die Szene von der Wasserseite aus zu verfolgen. Frohe Zuversicht lag in der Luft, weil alle glaubten, man hätte kein derart schwieriges Bergungsmanöver unternommen, wenn die Frau tot gewesen wäre, und als die Trage sich in die Luft erhob, stieg ein Jubelschrei aus der Menge auf. Die meisten waren der Ansicht, sie wäre von der Wand abgestürzt; einige glaubten, sie wäre vielleicht auf einer Luftmatratze aus Chapman’s Pool hinausgetrieben und in Not geraten. Daß sie ermordet worden war, ahnte keiner.
    Außer vielleicht Nick Ingram, der den zierlichen, bereits steif werdenden Körper auf die Trage hob und von einem schrecklichen Zorn auf den Tod gepackt wurde, der einer hübschen jungen Frau jede menschliche Würde geraubt hatte. Wie
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