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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg
Autoren: Jonathan Franzen
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kippten die Bootsleute den Außenborder hoch, und wir packten ein Tau, das zu einer Bake führte, und hangelten uns weiter hinein. Als wir uns den Felsen näherten, schlingerte das Boot wüst von Seite zu Seite, Wasser flutete das Heck, während die Bootsleute sich mühten, uns an ein Kabel zu hängen, das uns reinschleppen würde. An Land waren atemberaubende Mengen Fliegen – der Spitzname des Orts ist Fliegeninsel. Aus den offenen Türen mehrerer Hütten pumpten wetteifernde Ghettoblaster nord- und südamerikanische Musik, die sich gegen die beklemmende Gewaltigkeit der Schlucht und die kalt wogende See stemmte. Eine Gruppe großer, toter Bäume hinter den Hütten, bleich wie Knochen, trug zur bedrückenden Atmosphäre noch bei.
    Meine Gefährten auf dem Marsch ins Inselinnere waren der junge Parkranger Danilo und ein Maultier mit Pokerface. In Anbetracht der Steilheit der Insel konnte ich nicht einmal so tun, als wäre ich enttäuscht, mein Bündel nicht selber zu tragen. Danilo hatte sich ein Gewehr über den Rücken geschlungen, in der Hoffnung, eine jener vormals eingeschleppten Ziegen zu schießen, die das jüngste Bestreben einer holländischen Umweltorganisation, sie auszurotten, überlebt hatten. Unter grauen Morgenwolken, die sich bald in Nebel verwandelten, marschierten wir über endlose Serpentinen und durch eine üppig mit Macchie bewachsene Klamm – einer eingeführten Pflanzenart, die zur Reparatur von Hummerfallen verwendet wird. Auf dem Pfad fanden sich entmutigende Mengen von Maultiermist, doch das Einzige, was sich vor unseren Augen bewegte, waren Vögel: ein kleiner Grauflanken-Uferwipper und ein paar Juan-Fernández-Bussarde, zwei von Más Afueras insgesamt fünf landlebenden Vogelarten. Die Insel ist außerdem der einzig bekannte Brutplatz zweier interessanter Sturmvögel und eines der seltensten Singvögel der Welt, des Más-Afuera- bzw. Insel-Stachelschwanzschlüpfers, den ich zu beobachten hoffte. Tatsächlich war, als ich nach Chile aufbrach, das Beobachten neuer Vogelarten die einzige Beschäftigung, die mich zuverlässig nicht langweilte. Die Zahl der Más-Afuera-Schlüpfer, von denen die meisten in einem kleinen, hochgelegenen, Los Inocentes genannten Gebiet der Insel leben, wird mittlerweile auf nur noch fünfhundert geschätzt. Sehr wenige Menschen haben je einen gesehen.
    Früher, als ich erwartet hätte, erreichten Danilo und ich La Cuchara und sahen im Nebel die Umrisse eines kleinen refugio , einer Rangerhütte. Wir waren in nur etwas mehr als zwei Stunden bis auf tausend Meter gestiegen. Ich hatte gehört, dass es ein refugio in La Cuchara gebe, hatte mir aber eine primitive Hütte darunter vorgestellt und nicht geahnt, vor welches Problem dieses refugio mich stellen würde. Sein Dach war steil und mit Spannseilen im Boden verankert, und drinnen gab es einen Propangasherd, zwei Stockbetten mit Schaumstoffmatratzen, einen unappetitlichen, aber brauchbaren Schlafsack sowie einen Vorratsschrank voll mit Nudeln und Dosen; offensichtlich hätte ich außer ein paar Jodtabletten gar nichts mitbringen müssen und hier trotzdem überlebt. Das refugio ließ mein ohnehin schon irgendwie artifizielles Projekt einsamer Selbstgenügsamkeit noch artifizieller erscheinen, und ich beschloss, so zu tun, als wäre es nicht da.
    Danilo hob mein Bündel vom Maultier und führte mich über einen nebelverhangenen Pfad zu einem Bach, durch den genug Wasser rann, um einen kleinen Teich auszubilden. Ich fragte Danilo, ob man von hier nach Los Inocentes laufen könne. Er gestikulierte bergaufwärts und sagte: «Ja, es sind drei Stunden, die cordones entlang.» Ich erwog zu fragen, ob wir nicht gleich hingehen sollten, damit ich mein Lager näher bei den Más-Afuera-Schlüpfern aufschlagen könnte, aber Danilo schien es eilig zu haben, zurück zur Küste zu kommen. Er verschwand mit dem Maultier und seinem Gewehr, und ich beugte mich meinen crusoeischen Aufgaben.
    Die erste bestand darin, Trinkwasser zu holen und zu reinigen. Mit einer Filtrationspumpe und einem Segeltuch-Trinkschlauch folgte ich dem, was ich für den Pfad zu dem meines Wissens nicht weiter als sechzig Meter vom refugio entfernten Teich hielt, und verirrte mich sofort im Nebel. Als ich, nachdem ich mehrere Pfade ausprobiert hatte, endlich auf den Teich gestoßen war, brach der Schlauch meiner Pumpe. Ich hatte die Pumpe zwanzig Jahre zuvor gekauft, weil ich gedacht hatte, dass sie mir doch bestimmt gelegen kommen werde, sollte ich je
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