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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg
Autoren: Jonathan Franzen
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Und jeden Morgen die gleiche wiederbelebende Dosis Nikotin und Koffein; jeden Abend die gleiche Attacke auf die E-Mails in meinem Postfach; jede Nacht die gleiche Trinkerei für das gleiche hirnvernebelnde bisschen Behagen. Ab einem gewissen Punkt, nachdem ich über Más Afuera gelesen hatte, stellte ich mir vor, abzuhauen und dort, wie Selkirk, alleine zu sein, im Innern einer Insel, auf der niemand, nicht mal zeitweise, lebt.
    Außerdem gefiel mir die Idee, in der Zeit dort noch einmal das Buch zu lesen, das gemeinhin als erster englischer Roman gilt. Robinson Crusoe war das großartige frühe Zeugnis eines radikalen Individualismus, die Geschichte des praktischen und psychischen Überlebens eines ganz normalen Menschen in völliger Isolation. Das mit dem Individualismus verbundene Projekt des Romans – die Suche nach Bedeutung in einer realistischen Erzählung – wurde für die nächsten dreihundert Jahre zur kulturell vorherrschenden Form. Wir hören Robinson Crusoes Stimme in der Stimme von Jane Eyre, in den Aufzeichnungen des Manns aus dem Kellerloch, der Erzählung des unsichtbaren Manns und in den Einträgen von Sartres Roquentin. All diese Erzählungen hatten mich einmal begeistert, und schon im englischen Wort novel mit seinem Neuigkeitsversprechen hielt sich eine Erinnerung an jugendlichere Begegnungen, die so fesselnd waren, dass ich stundenlang stillsitzen konnte und nie auch nur an Langeweile dachte. In seinem Klassiker Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung erklärt Ian Watt den Boom der Romanproduktion im 18. Jahrhundert mit dem wachsenden Bedürfnis nach heimischer Unterhaltung, das Frauen empfanden, die – der traditionellen Aufgaben im Haushalt entbunden – zu viel Zeit hatten. Auf sehr direkte Weise war der englische Roman, Watt zufolge, aus der Asche der Langeweile gestiegen. Und Langeweile war es, woran ich litt. Je öfter man Ablenkung sucht, desto weniger effektiv ist jede einzelne, und so musste ich die diversen Dosen erhöhen, bis ich, eh ich mich’s versah, alle zehn Minuten meine E-Mails checkte und meine Tabakklumpen immer größer wurden und meine zwei abendlichen Drinks sich zu vier ausgewachsen hatten und ich es im Computer-Solitaire zu solcher Meisterschaft gebracht hatte, dass es nicht länger mein Ziel war, ein einzelnes Spiel zu gewinnen, sondern zwei oder mehr hintereinander – eine Art Meta-Solitaire, dessen Faszination weniger im Kartenspielen bestand als darin, auf den Wellen von Glück und Pech zu surfen. Meine bis dahin längste Gewinnsträhne war acht.
    Ich verabredete eine Mitfahrgelegenheit nach Más Afuera auf einem kleinen Boot, das ein paar abenteuerlustige Botaniker gechartert hatten. Dann stürzte ich mich in eine kurze Konsumorgie bei REI, wo die Crusoe’sche Robinsonade in den Gängen voll ultraleichter Überlebensausrüstung und, vielleicht gerade, durch bestimmte Zivilisation-in-der-Wildnis-Embleme wie dem Martiniglas aus rostfreiem Stahl mit abnehmbarem Stiel überdauerte. Außer mit einem neuen Rucksack, Zelt und Messer stattete ich mich mit ein paar neuartigen Spezialartikeln aus, etwa einem Plastiktablett mit Silikonrand, das sich mit einem Flappen in eine Schüssel verwandelte, Ascorbinsäure-Tabletten, die den Geschmack von mit Jod sterilisiertem Wasser neutralisieren sollten, einem Microfaser-Handtuch, das sich in einem bemerkenswert kleinen Beutel verstauen ließ, biologisch gefriergetrocknetem Chili und einem unkaputtbaren Göffel. Außerdem trug ich große Vorräte an Nüssen, Thunfisch und Proteinriegeln zusammen, denn mir war gesagt worden, dass ich bei schlechtem Wetter ewig auf Más Afuera festsitzen könne.
    Am Vorabend meiner Abreise nach Santiago besuchte ich meine Freundin Karen, die Witwe des Schriftstellers David Foster Wallace. Als ich schon im Aufbruch war, fragte sie mich, aus heiterem Himmel, ob ich vielleicht etwas von Davids Asche mitnehmen und auf Más Afuera verstreuen wolle. Ich bejahte, und sie holte eine antike Zündholzschachtel aus Holz, ein winziges Buch mit einer Schublade, füllte etwas Asche hinein und sagte, ihr gefalle der Gedanke, dass ein Teil von David auf einer entlegenen und unbewohnten Insel seine Ruhe finden würde. Erst später, als ich schon losgefahren war, begriff ich, dass sie mir die Asche ebenso sehr um meinet- wie um ihret- oder Davids willen gegeben hatte. Sie wusste von mir, dass mein gegenwärtiges Fliehen vor mir selbst zwei Jahre zuvor, kurz nach Davids Tod, begonnen hatte. Damals hatte ich
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