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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg
Autoren: Jonathan Franzen
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mein Leben als Weltbürger zu driften, Gefallen zu finden und Missfallen zu hegen und mir meine Hingabe für später aufzusparen, war ich gezwungen, mich einem Ich zu stellen, das ich entweder vom Fleck weg zu akzeptieren oder rundheraus abzulehnen hatte. Das eben macht die Liebe mit einem Menschen. Denn für uns alle gilt nun einmal, dass wir eine Weile am Leben sind, aber in Kürze sterben werden. Diese Tatsache ist die Wurzel all unserer Wut und unseres Schmerzes und unserer Verzweiflung. Und vor dieser Tatsache kann man entweder weglaufen oder sie, über den Weg der Liebe, annehmen.
    Wie gesagt, die Sache mit den Vögeln kam für mich sehr unerwartet. Bis dahin hatte ich nicht viele Gedanken auf Tiere verschwendet. Vielleicht ist es Pech, dass ich meinen Weg zu den Vögeln so relativ spät im Leben gefunden habe, vielleicht ist es Glück, dass ich ihn überhaupt gefunden habe. Aber wenn so eine Liebe einen erst einmal erwischt, wie spät oder früh auch immer, verändert sie die eigene Beziehung zur Welt. Ich zum Beispiel hatte nach ein paar frühen Experimenten den Journalismus aufgegeben, weil mich die Welt der Fakten nicht so sehr begeisterte wie die Welt der Fiktion. Doch nachdem mich meine Vogelkonversionserfahrung gelehrt hatte, auf meinen Schmerz und meine Wut und Verzweiflung zu- statt davor wegzulaufen, nahm ich eine andere Art journalistischer Aufträge an. Was immer mich zu einem bestimmten Zeitpunkt am meisten abstieß, wurde zu dem, worüber ich schreiben wollte. Im Sommer 2003, als die Republikaner dem Land Dinge antaten, die mich rasend machten, ging ich nach Washington. Ein paar Jahre später ging ich nach China, weil mein Zorn darüber, wie die Chinesen ihre Umwelt verwüsteten, mich nachts nicht schlafen ließ. Ich fuhr ans Mittelmeer, um Jäger und Wilderer zu interviewen, die ziehende Singvögel abschlachten. Und immer, wenn ich dem Feind begegnete, stieß ich auf Menschen, die ich wirklich mögen – in manchen Fällen geradezu lieben konnte. Urkomische, generöse, brillante schwule Mitarbeiter der Republikaner. Furchtlose, wundertätige junge chinesische Naturliebhaber. Einen waffenvernarrten italienischen Juristen mit sehr sanftem Blick, der den Tierrechtler Peter Singer zitierte. In jedem Fall fiel mir die pauschale Antipathie, die ich so leicht entwickelt hatte, nicht mehr so leicht.
    Wenn man in seinem Zimmer bleibt und tobt oder spottet oder die Achseln zuckt, wie ich es viele Jahre lang getan habe, sind die Welt und ihre Probleme entmutigend. Wenn man aber rausgeht und sich in eine wirkliche Beziehung zu wirklichen Menschen oder auch nur wirklichen Tieren setzt, besteht die sehr reale Gefahr, einige von ihnen zu lieben. Und wer weiß, was dann mit einem geschieht?
    Danke.

    (Übersetzt von Wieland Freund)

[zur Inhaltsübersicht]
    Weiter weg
    Im Südpazifik, achthundert Kilometer vor der Küste von Chile, liegt eine verboten steile Vulkaninsel, zehn Kilometer lang und sechs Kilometer breit, die von Millionen Seevögeln und Tausenden Seebären bewohnt wird, aber frei von Menschen ist. Nur in den wärmeren Monaten fahren ein paar Fischer raus, um Hummer zu fangen. Will man die Insel, die offiziell Alejandro Selkirk heißt, erreichen, so fliegt man in einem Achtsitzer, der zweimal wöchentlich verkehrt, zunächst auf eine etwa hundertfünfzig Kilometer weiter östlich gelegene Insel. Dort steigt man in ein kleines offenes Boot und fährt von der Landepiste zum einzigen Dorf des Archipels, wartet darauf, dass man gelegentlich von einer der Barkassen auf die zwölfstündige Ausfahrt mitgenommen wird, und muss dann oft noch länger, manchmal tagelang warten, bis das Wetter es zulässt, dass man an der felsigen Küste an Land geht. In den sechziger Jahren haben chilenische Tourismusvertreter die Insel nach Alexander Selkirk umbenannt, dem schottischen Seemann, dessen Geschichte vom einsamen Leben auf dem Archipel wahrscheinlich die Grundlage für Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe war, aber die Einheimischen verwenden immer noch ihren ursprünglichen Namen, Más Afuera: Weiter weg.
    Im Spätherbst des vergangenen Jahres war es mir ein ziemlich starkes Bedürfnis, weiter weg zu sein. Vier Monate lang war ich nonstop mit einem Roman auf Tour gewesen und willenlos meinem Terminkalender gefolgt, bis ich mich mehr und mehr wie die kleine Raute auf dem Ladebalken eines Mediaplayers fühlte. Wesentliche Teile meiner persönlichen Geschichte starben innerlich ab, weil ich zu oft über sie sprach.
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