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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg
Autoren: Jonathan Franzen
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anderen – und das könnte heute meine zentrale Botschaft sein – tut Schmerz weh, aber er bringt dich nicht um. Bedenkt man die Alternative – einen narkotisierten, technisch begünstigten Traum von Selbstgenügsamkeit –, dann erscheint der Schmerz als das natürliche Produkt und der natürliche Indikator des Lebendigseins in einer widerständigen Welt. Ohne Schmerz durchs Leben zu kommen heißt, nicht gelebt zu haben. Sogar sich zu sagen: «Oh, zu dieser Herz-und-Schmerz-Geschichte komme ich später, vielleicht wenn ich so dreißig bin», heißt, sich zehn Jahre lang bloß darauf zu beschränken, einen Platz auf dem Planeten zu besetzen und dessen Ressourcen zu vernichten. Es heißt (und ich meine das wirklich im verdammenden Wortsinn), ein Konsument zu sein.
    Was ich zuvor gesagt habe – dass die Bindung an etwas, das man liebt, einen dazu zwingt, sich dem zu stellen, der man wirklich ist –, mag insbesondere für das Schreiben gelten, aber es trifft auf so gut wie jede Arbeit zu, die einem viel bedeutet. Ich möchte hier schließen, indem ich über eine weitere Liebe von mir spreche.
    Als ich im College war, und noch viele Jahre später, gefiel mir die Natur. Ich liebte sie nicht, aber ganz bestimmt gefiel sie mir. Sie kann sehr schön sein, die Natur. Und da ich für die Kritische Theorie entflammt war und nicht nur nach etwas suchte, was ich falsch finden konnte in der Welt, sondern auch nach Gründen, die dafür Verantwortlichen zu hassen, fühlte ich mich natürlich von der Umweltbewegung angezogen, denn in Sachen Umwelt lief doch gewiss jede Menge schief. Und je mehr ich auf das sah, was falsch war – eine explodierende Weltbevölkerung, explodierende Ressourcenvernichtung, steigende Temperaturen, Vermüllung der Ozeane, Abholzung unserer letzten Urwälder –, desto wütender und hasserfüllter wurde ich. Mitte der Neunziger schließlich, ungefähr zu der Zeit, als meine Ehe zerbrach und ich befand, Schmerz sei das eine, etwas ganz anderes aber sei es, für den Rest des Lebens immer wütender und unglücklicher zu werden, traf ich ganz bewusst die Entscheidung, mir keine Sorgen mehr um die Umwelt zu machen. Ich persönlich konnte nichts Bedeutsames zur Rettung des Planeten beitragen, und ich wollte mich den Dingen widmen, die ich liebte. Auf meinen CO 2 -Fußabdruck achtete ich nach wie vor, weiter jedoch konnte ich nicht gehen, ohne in Wut und Verzweiflung zurückzufallen.
    Und dann passierte mir etwas Komisches. Es ist eine lange Geschichte, im Wesentlichen aber verliebte ich mich in die Vögel. Ich wehrte mich mächtig dagegen, denn Vögel zu beobachten ist uncool, weil alles, was wahre Leidenschaft verrät, per definitionem uncool ist. Stück für Stück jedoch, wider mich selbst, entwickelte ich diese Leidenschaft, und auch wenn die eine Hälfte einer Passion Obsession ist – die andere Hälfte ist Liebe. Und so, ja, führte ich eine pingelige Liste der Vögel, die ich gesehen hatte, und, ja, unternahm alles Erdenkliche, um weitere Arten zu sehen. Doch, und das ist nicht weniger wichtig, wann immer ich einen Vogel sah, irgendeinen Vogel, selbst eine Taube oder ein Rotkehlchen, spürte ich mein Herz vor Liebe überfließen. Und wie ich heute zu erklären versucht habe: Mit der Liebe fangen die Probleme an.
    Denn nun, da mir die Natur nicht bloß gefiel, sondern ich einen konkreten und lebendigen Teil von ihr liebte, konnte ich gar nicht anders, als mich erneut um die Umwelt zu sorgen. Die Nachrichten von dieser Front waren nicht besser als damals, als ich entschieden hatte, mich nicht mehr um sie zu scheren – eigentlich waren sie sogar erheblich schlechter –, nur waren die bedrohten Wälder und Feuchtgebiete und Ozeane für mich nicht länger bloß eine schöne Szenerie, an der ich mich erfreute. Sie waren das Zuhause von Tieren, die ich liebte. Und an diesem Punkt kam es zu einem seltsamen Paradox. Meine Wut und mein Schmerz und meine Verzweiflung über den Planeten wurden durch meine Sorge um die wilden Vögel nur noch größer, und doch wurde es, während ich mich mit Artenschutz beschäftigte und mehr über die Gefahren erfuhr, denen Vögel ausgesetzt sind, seltsamerweise leichter, nicht schwerer, mit meiner Wut und meinem Schmerz und meiner Verzweiflung zu leben.
    Wie kann das gehen? Zum einen, glaube ich, öffnete mir die Liebe zu den Vögeln die Tür zu einem wichtigen, weniger ich-zentrierten Teil meiner selbst, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte. Statt weiter durch
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