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Weit weg im Outback: Unser Leben in Australien (German Edition)

Weit weg im Outback: Unser Leben in Australien (German Edition)

Titel: Weit weg im Outback: Unser Leben in Australien (German Edition)
Autoren: Urs Wälterlin
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als ich die Treppen des alten Gebäudes hochsteige. Ich nicke der Lehrerin zu, dann David. Und setze mich auf einen Stuhl.
    Die Kinder spielen sehr schön, doch ich kann kaum zuhören. Ich habe das Gefühl, in meinem Kopf rolle eine Dampfwalze hin und her. Schweiß steht mir auf der Stirn, meinen Arm spüre ich kaum noch. Trotzdem kann ich klar denken. Fast zu klar. Alles um mich herum scheint überdimensioniert, die Farben grell. So muss es sein, wenn man Ecstasy genommen hat, denke ich. Mein Herz schlägt nicht mehr, es rast. Ich zähle meinen Puls. 148 Schläge pro Minute. »Noch fünf Minuten so weiter, und mir platzt die Pumpe«, denke ich.
    Und dann geschieht etwas völlig Unerwartetes. Als ich aufstehen will, um der Lehrerin die Situation zu erklären und dann ins Krankenhaus zu fahren, überkommt mich ein Gefühl kompletter, fast überwältigender Entspannung. Von einer Sekunde auf die andere sind alle Symptome der Vergiftung gestoppt. Mein Herz beruhigt sich. Das Hämmern im Kopf hört auf, der Schmerz im Arm ist weg. Ich fühle mich schlapp, als hätte ich eine lange Fiebergrippe überwunden.
    Davids Vorstellung ist zu Ende. Entkräftet schleppe ich mich zum Auto und fahre los, zurück nach Wombat Creek. Als Christine am Abend nach Hause kommt, gibt’s erst mal Schelte. »Wie kann man nur so dämlich sein und nicht ins Krankenhaus gehen?«, schimpft sie. »Nur weil du so eine gute körperliche Abwehr hast, bist du jetzt nicht auf der Intensivstation. Oder noch schlimmer.« Ich schlafe ein und wache erst 12 Stunden später wieder auf. Es wird ein guter Tag. Wir feiern den größten Erfolg, den Australien zu feiern hat: seine multikulturelle Gesellschaft.
    »Dumpling mit Fleisch oder Dumpling mit Gemüse?«, fragt die junge Chinesin und legt mir die Teigtasche auf einen Styroporteller. Es ist »Tag der Multikulturalität« in Greentown. Im Park haben die Vertreter der verschiedenen Ethnien, die in unserer Region leben, kleine Stände aufgestellt. Die meisten verkaufen ein typisches Gericht aus ihrer Heimat. Nepalesisches Linsen-Dahl, türkische Köfte, deutsche Bratwürste. Ich zähle 16 verschiedene Nationen. Die Schweizer fehlen. »Das nächste Mal kommen wir mit unserem Racletteofen her«, sage ich zu Samuel, der seine Zähne in eine vietnamesische Frühlingsrolle senkt. Im Vergleich zu den australischen Großstädten wie Sydney, in denen gewisse Stadtteile von Neuzuwanderern dominiert werden, haben wir in unserem Dorf wenige Immigranten. Dass es hier trotzdem eine solche Vielfalt an Ethnien gibt, erfüllt mich mit Stolz. Stolz, Australier zu sein.
    Australien ist eines der ethnisch vielfältigsten Länder der Welt. Jeder zweite Australier ist entweder selbst im Ausland geboren oder stammt von ausländischen Eltern ab. Während »Multikulti« in Europa in den letzten Jahren fast zu einem Schimpfwort geworden ist, ist Multikulturalismus hier einer der ganz großen Erfolge. Das war nicht immer so. 1901 führte Australien die »White Australia Policy« ein. Über eine rassistische Auslese sollte das Land nur mit Weißen besiedelt werden und ein Außenposten westlicher Zivilisation sein, des »British Empire«. Diese Politik wurde erst in den siebziger Jahren mit der Ankunft von asiatischen Einwanderern fallengelassen. Heute haben zehn Prozent der australischen Bevölkerung asiatische Wurzeln. Zwar vergeht seither kein Tag, ohne dass Multikulturalismus in den Medien diskutiert wird. Konservative Kommentatoren verurteilen – oft mit rassistischen oder fremdenfeindlichen Untertönen – das »Experiment« regelmäßig als gescheitert. Das ist aber kompletter Unsinn. Die multikulturelle Gesellschaft funktioniert nicht nur gut, sie ist so erfolgreich wie kaum in einem anderen vergleichbaren Land.
    Über die Gründe streiten sich die Experten. Es sind wohl mehrere. Entscheidend ist die Auswahl der Einwanderer, die überhaupt ins Land gelassen werden. Es ist schwierig, ein Daueraufenthaltsvisum für Australien zu erhalten. Im Gegensatz zu den fünfziger und sechziger Jahren akzeptiert Australien heute vorwiegend Menschen mit sehr guter Ausbildung und mit Erfahrung. Diese Berufsleute kommen aber nicht als »Gastarbeiter« wie in anderen Ländern. Sie sollen bleiben. Sie sollen Australier werden.
    Auch ich hatte mich nach nur zwei Jahren im Land bereits einbürgern lassen. Aber nur, weil ich meinen alten Pass behalten konnte. Schweizern ist es erlaubt, zwei Staatsangehörigkeiten zu haben. Es sollte 20 Jahre
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