Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken
Autoren: Thomas Finn
Vom Netzwerk:
und ihm wurde kalt. Am liebsten hätte er den elenden Zettel in seiner Hand zerknüllt, doch er brachte es nicht übers Herz. Mit den Tränen kämpfend, schleppte er sich zum Haus zurück, warf die Tür hinter sich zu und stiefelte erneut in die Küche. Dort schob er einen Hocker vor den alten Küchenschrank, stellte sich drauf und kramte den Brotkorb hervor, den er dort oben deponiert hatte. Darin lagen seine Schätze. Die einzigen Gegenstände im ganzen Haus, die ihm wirklich etwas bedeuteten. Andreas legte den Zettel seines Vaters zu den vielen anderen, die sich darin über die Jahre angesammelt hatten. Manchmal, wenn er die vielen Notizen seines Vaters hervorkramte und erneut las, überkam ihn ein heimeliges Gefühl, fast so, als redete sein Vater wirklich mit ihm. Und in diesen Momenten glaubte er sogar selbst daran, dass er ihm noch etwas bedeutete.
    Und doch blieb die Frage, was das quietschende Geräusch vorhin verursacht hatte. Andreas war plötzlich unbehaglich zumute. Dabei dachte er, seine Angst, allein in diesem großen alten Haus zu leben, schon vor langer Zeit überwunden zu haben.
    Vorsichtig schlich er zurück in den Gang mit der Treppe nach oben und beäugte misstrauisch die Tür zum Wohnzimmer. Sie stand einen winzigen Spalt breit auf. Andreas gab sich einen Ruck und stieß sie auf. Wie immer war der Raum überhitzt, denn die Heizung funktionierte hier nicht richtig. Schwülwarme Luft schlug ihm entgegen, die leicht nach brackigem Wasser roch. Rechts von ihm, neben dem Wohnzimmerschrank aus echter Eiche, blubberte sein großes Aquarium, das inzwischen mit Algen nur so übersät war. Sein Vater hatte es ihm vor zwei Jahren geschenkt. Fische lebten darin nur noch wenige. Doch für das Aquarium hatte Andreas kein Interesse. Sein Augenmerk galt vielmehr der Glasfront hinter der ledernen Sofagarnitur, durch die man im Sommer einen großzügigen Blick auf den verwilderten Garten werfen konnte. Die großen Fenster waren komplett beschlagen … oder hätten es zumindest sein müssen. Tatsächlich aber zeichneten sich auf ihnen große Buchstaben ab, die langsam an Konturen verloren.
    Fassungslos sah er sich im Raum um, doch er war leer, und auch die Gartentür war zugesperrt. Dabei gab es keinen Zweifel: Jemand war noch vor wenigen Minuten hier gewesen und hatte die Buchstaben von innen auf das Glas gemalt.
    Auf den Scheiben stand: DU BIST TOT!
    Leise rieselte der Schnee. Robert stand regungslos am zugigen Badfenster und sah den dicken Flocken dabei zu, wie sie vom Himmel herabsanken und die Gasse vor dem Haus gleichsam in ein weißes Leichtuch hüllten. Robert mochte den Vergleich. Das Straßenpflaster, die Dächer und Fenstersimse der Nachbarhäuser, alles wirkte unter der kalten Pracht so unbefleckt und rein. So friedlich und erstarrt. Irgendwie … leblos.
    Schon seit Wochen war es in Perchtal bitterkalt. Abgesehen von dem seltsamen Wärmeeinbruch vor einer Woche, der mit seinem Schmelzwasser dafür gesorgt hatte, dass die Bäche der Gegend über die Ufer getreten waren, versanken die Täler und Berge des Berchtesgadener Landes nun wieder unter dicken Lagen Schnees. Wenn es weiter so schneite, würde der Ort bald von der Außenwelt abgeschnitten sein. Das war auch letztes Jahr schon passiert. Nicht, dass er Berchtesgaden oder seine Schule dort so prickelnd fand, aber besser als das Leben in diesem Kaff war beides allemal.
    Von irgendwoher war das leise Kratzen einer Schneeschippe zu hören. Robert vernahm das Geräusch, obwohl im Hintergrund die düstere Musik von Dead Can Dance den Flur erfüllte. Eigentlich stand er auf härtere Gruppen wie Darkthrone, Immortal oder Burzum, doch Dead Can Dance gehörte zu seinem Morgenritual wie für andere das Frühstück. Die elegischen Klänge schienen dem Reich der Toten zu entsteigen. Tatsächlich kamen sie ganz profan von drüben aus seinem Zimmer, denn dort lief der Ghettoblaster, den ihm Andy vor einem halben Jahr vermacht hatte. Die Lautstärkeregler waren gerade so weit aufgedreht, dass er seine Mutter nicht wach machte. Dabei bezweifelte Robert, dass sie es gestern Abend noch bis in ihr Schlafzimmer geschafft hatte. Zugleich war die Musik so laut, dass sie andere etwaige Geräusche im Haus übertönte. Das war besser so, denn wenigstens der Morgen war die Zeit, die ihm allein gehörte.
    Widerwillig löste sich Robert vom Fenster und trat vor den Badezimmerspiegel, unter dem sorgsam all die Haarspraydosen und Haarfärbemittel neben einer unruhig flackernden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher