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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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schneiden, eine Freude, die genauso rein war, als hätte sie gerade einen schönen Satz geschrieben.
    Doch dann sah ich, was sie noch nicht gesehen hatte: Der Ziegenbock betrat die Layout-Abteilung. Ich wollte ihren Moment der Anmut nicht zerstören, deshalb klebte ich weiter an meinem chinesischen Baum aus Papierresten und aussortierten Standbildern von »Salaam Bombay«. Als ich hochschaute, fing er meinen Blick auf, legte den Finger an die Lippen, schlich sich hinter sie und tippte ihr auf die Schulter. Ihr Papiermesser schoss durch die Satzvorlage. Sie fuhr herum, und ich dachte schon, dass sie ihm den Bauch aufschlitzen wollte, doch er zeigte ihr etwas, was sie davon abhielt: einen kleinen Umschlag, den er auf den Tisch legte.
    »Für dich und deine Tochter«, sagte er.
    Sie öffnete ihn und zog zwei blau-weiße Eintrittskarten heraus. Ihr Schweigen, während sie sie untersuchte, erstaunte mich. Sie betrachtete zuerst die Karten, dann ihn, dann stieß sie die Spitze ihres Papiermessers in die Gummiauflage des Tisches, ein Pfeil, der dort einen Moment lang stecken blieb, ehe sie ihn wieder herauszog.
    »Nur das Konzert«, sagte sie dann. »Ich gehe weder abendessen noch tanzen!«
    »Einverstanden«, antwortete er, doch ich konnte sehen, dass er ihre Worte nicht wirklich ernst nahm. Er kannte sie noch nicht.
    Die Karten waren für ein Gamelan-Konzert im Kunstmuseum bestimmt. Nun war mir klar, weshalb sie so schnell eingewilligt hatte. Ich fragte mich bloß, woher er so genau wusste, was er ihr vorschlagen musste – die einzige Einladung kannte, die sie niemals ausschlagen würde. Hatte er sich in den Oleanderbüschen vor unserem Haus versteckt? Ihre Freunde ausgefragt? Irgendjemanden bestochen?
    Die Nacht knisterte, als meine Mutter und ich im Foyer des Museums auf ihn warteten. Die Hitze hatte alles statisch aufgeladen. Ich kämmte mir die Haare, weil ich sehen wollte, ob die Spitzen Funken schlugen.
    Meine Mutter, gezwungen zu warten, machte kurze, ungeduldige Handbewegungen. »Zu spät! Wie verabscheuungswürdig! Ich hätte es gleich wissen müssen! Wahrscheinlich bespringt er gerade irgendwo in einem Feld ein paar Ziegen! Erinnere mich gelegentlich daran, nie wieder Verabredungen mit Vierbeinern zu treffen!«
    Sie trug immer noch ihre Arbeitsklamotten, obwohl sie genug Zeit gehabt hätte, sich umzuziehen. Damit wollte sie ein Zeichen setzen, ihm zeigen, dass es sich gar nicht um eine richtige Verabredung handelte, dass ihr der Anlass völlig unwichtig war. Die anderen Frauen, die sommerliche Seidenkleider trugen und teure Parfumdüfte hinter sich herzogen, beäugten sie kritisch. Die Männer blickten sie bewundernd an, lächelten und starrten ihr hinterher. Sie starrte unverblümt zurück, mit ihren stechend blauen Augen, so lange, bis es den Männern peinlich wurde und sie sich verlegen wegdrehten.
    »Männer«, sagte sie. »Egal wie unattraktiv sie sind – jeder glaubt, er sei was ganz Besonderes!«
    Ich sah Barry über den Platz kommen, eine massige Gestalt auf kurzen Beinen. Er grinste und enthüllte dabei seine Zahnlücke. »Tut mir Leid, aber der Verkehr war die Hölle!«
    Meine Mutter ignorierte die Entschuldigung. Nur Trampel hielten es für nötig, sich zu entschuldigen, hatte sie mir beigebracht. Entschuldige dich nie, erkläre nie etwas.
    Das Gamelan-Orchester bestand aus zwanzig kleinen, dürren Männlein, die vor kunstvoll geschnitzten Glockenspielen, Gongs und Trommeln knieten. Die Trommel begann, begleitet von den tieferen Glockenspielen. Dann fielen immer mehr Instrumente in den anschwellenden Klang ein. Rhythmen entstanden und breiteten sich aus, verschlungen wie Lianen. Meine Mutter sagte, das Gamelan verursache beim Hörer eine Hirnwelle jenseits aller Alpha-, Beta- und Thetawellen. Eine Welle, die die normalen Gedankenkanäle lahmlegte und in bisher unberührten Gegenden des Geistes neue erzwang, ähnlich wie parallele Blutgefäße entstehen, um ein beschädigtes Herz zu versorgen.
    Ich schloss die Augen und betrachtete die winzigen Tänzer, die wie juwelengeschmückte Vögel über die dunkle Leinwand meiner Augenlider hüpften. Sie zogen mich mit sich und redeten mit mir in Sprachen, die keine Worte hatten für seltsame Mütter mit eisblauen Augen, für Apartmenthäuser mit hässlichen Glitzersteinen auf der Eingangstür und verwelkten Blättern im Pool.
    Nach der Vorstellung klappte das Publikum die plüschigen Samtsessel hoch und drängte zu den Ausgängen, doch meine Mutter rührte
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