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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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Russisch. Er hatte für den Nachrichtendienst, die Army Intelligence, gearbeitet – ein Widerspruch in sich, wie er immer sagte –, deshalb hatte man ihm jetzt die deutschen und russischen Autoren zugeteilt.
    »Kurzgeschichten von Tschechow.« Er beugte sich vor und reichte mir das Buch vom Couchtisch. Es war voll mit Anmerkungen, Klebezettelchen und Unterstreichungen.
    Ich blätterte das Buch durch. »Meine Mutter hasst Tschechow. Sie sagt, dass jedem, der ihn einmal gelesen hat, klar sein muss, wieso es zur Revolution kam.«
    »Deine Mutter!« Michael lächelte. »Dir würde er vielleicht sogar gefallen. Tschechow ist so herrlich melancholisch!« Wir drehten uns beide zum Fernseher, um die beste Stelle in »Königin Christina« nicht zu verpassen, und sprachen im Chor mit der Garbo: »Der Schnee ist wie ein weißes Meer. Man könnte hinausgehen und sich darin verlieren – und die ganze Welt vergessen.«
    Ich stellte mir meine Mutter als Königin Christina vor, kühl und traurig, die Augen auf einen fernen Horizont gerichtet. Dort gehörte sie eigentlich hin, in Pelze gehüllt, Paläste mit seltenen Schätzen, mit Kaminen, die so groß waren, dass man ein ganzes Rentier davor rösten konnte, Schiffe aus schwedischem Ahorn. Meine größte Angst war, dass sie eines Tages dorthin zurückkehren und nie mehr wiederkommen würde. Deshalb blieb ich immer wach und wartete auf sie, wenn sie abends ausging, so wie jetzt, egal wie spät sie nach Hause kam. Ich musste ihren Schlüssel im Schloss hören und ihr Veilchenparfum riechen.
    Und ich versuchte, es nicht noch schlimmer zu machen, indem ich sie um Dinge bat oder sie mit meinen Problemen herunterzog. Ich hatte schon oft beobachtet, wie andere Mädchen nach neuen Kleidern jammerten oder sich darüber beschwerten, was ihre Mütter ihnen zum Abendessen gekocht hatten. Ich schämte mich dann immer. Wussten sie denn nicht, dass sie ihre Mütter an den Boden fesselten? Hatten Ketten kein schlechtes Gewissen gegenüber den Gefangenen?
    Doch wie ich sie darum beneidete, dass ihre Mütter auf ihren Bettkanten hockten und erfahren wollten, was sie dachten! Meine Mutter zeigte, was mich betraf, kein bisschen Neugier. Ich fragte mich oft, was ich eigentlich für sie war: ein Hund, den sie vor irgendeinem Geschäft anbinden konnte, ein Papagei auf ihrer Schulter?
    Ich erzählte ihr nie, dass ich mir einen Vater wünschte, dass ich im Sommer gern ins Feriencamp fahren würde, dass sie mir manchmal Angst einjagte. Ich befürchtete, sie würde dann davonfliegen und mich allein zurücklassen. Dass ich dann an einem Ort leben müsste, wo es zu viele Kinder und zu viele Gerüche gab; an einem Ort, wo Schönheit und Stille und der Zauber ihrer Worte, die sich in die Luft erhoben, so weit weg wären wie Saturn.
    Draußen vor dem Fenster verschwamm das Leuchten des Hollywood-Schriftzugs im Juninebel. Eine weiche Nässe auf den Hügeln ließ den Geruch nach Salbei und Chamisosträuchern aufsteigen. Feuchtigkeit, die das Fensterglas mit Träumen beschlug.
    Sie kam um zwei nach Hause, als die Bars schlossen. Ihrer Ruhelosigkeit war für den Augenblick Genüge getan. Ich saß auf ihrem Bett, sah ihr dabei zu, wie sie sich umzog, und bewunderte jede ihrer Bewegungen. Eines Tages würde ich auch so die Arme kreuzen und mir ein enges Kleid über den Kopf ziehen, die hochhackigen Schuhe abstreifen. Ich probierte sie an und bewunderte sie an meinen Füßen. Sie hatten fast die richtige Größe. In etwa einem Jahr würden sie mir passen. Sie setzte sich neben mich, gab mir ihre Bürste, und ich bürstete ihr helles Haar, bis es weich war, und sprenkelte die Luft mit ihrem Veilchengeruch. »Ich hab den Ziegenbock wieder gesehen«, sagte sie.
    »Was für einen Ziegenbock?«
    »Aus dem Weinlokal, erinnerst du dich? Den grinsenden Pan mit den Pferdefüßen?«
    Ich konnte uns beide in dem runden Wandspiegel sehen, unser lang herabhängendes Haar, unsere blauen Augen. Nordische Frauen. Wenn ich uns so sah, erinnerte ich mich beinahe daran, wie es gewesen sein musste, als wir in kalten, tiefen Wassern fischten. Ich roch Dorsch und Holzkohlenfeuer, dachte an unsere Fellstiefel, unser seltsames Alphabet, dessen Runen wie Stöcke aussahen, an unsere Sprache, die wie das Pflügen des Feldes war.
    »Er hat mich die ganze Zeit über angestarrt«, sagte sie. »Barry Kolker. Marlene hat erzählt, dass er Essays schreibt.« Ihre fein geschwungenen Lippen verzogen sich zu langen missbilligenden Kommas. »Er war mit
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