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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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immer auswendig lernen«, sagte sie. »Sie müssen zu deinem Knochenmark werden. Wie Fluor im Wasser machen sie deine Seele unempfindlich gegen die schleichende Karies der Welt.«
    Ich stellte mir vor, dass meine Seele Worte aufsog, ähnlich wie die Bäume im Petrified Forest Kieselerde aufgesogen hatten, und dass sich mein Holz in gemustertes Achat verwandelte. Ich mochte es, wenn meine Mutter mich formte. Ich glaubte, dass Ton sich in der Hand einer guten Töpferin wohl fühlen müsse.
    Am Nachmittag fiel die Chefredakteurin in die Layout-Abteilung ein und zog eine Wolke orientalischen Duftes hinter sich her, die noch lange, nachdem sie gegangen war, in der Luft hing. Kit war eine dünne Frau mit sehr hellen Augen und den hektischen Bewegungen eines aufgeschreckten Vogels; sie lächelte etwas zu fröhlich mit ihren leuchtend roten Lippen, während sie hin und her flatterte, sich das Layout anschaute, den Seitenaufbau überprüfte, über die Schultern meiner Mutter hinweg die Schriften kontrollierte und Verbesserungen vorschlug. Meine Mutter warf ihr Haar zurück wie eine Katze, die noch einmal zuckt, ehe sie einen mit den Klauen packt.
    »Ihre langen Haare!«, sagte Kit. »Ist das nicht gefährlich bei Ihrer Arbeit? Mit dem Fixogum und dem ganzen Klebezeug?« Sie trug einen kurzen geometrischen Haarschnitt, tintenschwarz gefärbt und im Nacken ausrasiert.
    Meine Mutter ignorierte sie, ließ jedoch das Papiermesser fallen, sodass es sich wie ein Wurfspeer in die Tischplatte bohrte.
    Nachdem Kit wieder gegangen war, sagte meine Mutter zu Marlene: »Ich bin sicher, dass sie mich am liebsten mit einem Bürstenschnitt sehen würde. Genauso schwarz geteert wie ihrer.«
    »Farbton ›Tanz der Vampire‹«, sagte Marlene.
    Ich blickte nicht auf. Ich wusste, dass sie nur wegen mir hier war. Wenn ich nicht wäre, müsste sie keine solchen Arbeiten annehmen. Sie wäre irgendwo am anderen Ende der Welt, würde sich in einem türkisfarbenen Meer treiben lassen oder im Mondlicht zu Flamenco-Klängen tanzen. Ich fühlte meine Schuld wie ein Brandmal.
    An diesem Abend ging sie allein aus. Ich zeichnete eine Stunde lang, aß ein Sandwich mit Erdnussbutter und Mayonnaise und klopfte dann gelangweilt bei Michael, unserem Nachbarn, an. Auf der anderen Seite der Tür wurden drei Riegel zurückgeschoben. »Gerade läuft ›Königin Christina‹!« Er lächelte mich an, ein freundlicher, weicher Mann, ungefähr so alt wie meine Mutter, aber aufgedunsen und blass, weil er trank und nie an die frische Luft ging. Er räumte einen Stapel dreckiger Klamotten und einige Variety-Hefte von der Couch, damit ich mich setzen konnte.
    Sein Apartment sah ganz anders aus als unseres, voll gestopft mit Möbeln, Andenken, Kinoplakaten, Variety-Heften, Zeitungen und leeren Weinflaschen. Auf den Fensterbänken vegetierten einige Tomatenpflanzen vor sich hin und kämpften um die wenigen Lichtstrahlen. Selbst tagsüber war es dunkel, da die Fenster nach Norden gingen, doch man hatte einen sensationellen Blick auf den Hollywood-Schriftzug; aus diesem Grund hatte Michael das Apartment auch bezogen.
    »Immer nur Schnee«, sprach er im Chor mit der Garbo und verzog das Gesicht genau wie sie. »Ewiger Schnee.« Er reichte mir eine Schüssel mit Sonnenblumenkernen. »Ich bin die Garbo.«
    Ich knackte die Kerne zwischen den Zähnen und streifte die Plastiksandalen ab, die ich seit April trug. Ich konnte meiner Mutter unmöglich sagen, dass ich schon wieder herausgewachsen war. Ich wollte sie nicht daran erinnern, dass ich der Grund dafür war, dass sie zwischen Stromrechnungen und zu klein gewordenen Kinderschuhen gefangen war, der Grund dafür, dass sie sich wie Michaels welke Tomaten nach ein paar Lichtstrahlen recken musste. Sie war eine schöne Frau, die einen Klumpfuß hinter sich herzog – und dieser Klumpfuß war ich. Ich war der Mühlstein, den sie mit sich herumschleppte, ich war ihr Stahlkorsett.
    »Was liest du gerade?«, fragte ich Michael. Er war Schauspieler, arbeitete allerdings nicht besonders viel – und für das Fernsehen wollte er nichts machen, sodass er sein Geld vor allem damit verdiente, Bücher für »Books on Tape« zu lesen. Er musste das unter einem Pseudonym tun, Wolfram Malevich, weil er in der Schauspielergewerkschaft war, aber der Verlag die gewerkschaftlichen Tarifverträge umging. Wir hörten ihn jeden Morgen sehr früh durch die dünne Wand, wenn er seine Bücher las. Aus seiner Zeit bei der Armee konnte er etwas Deutsch und
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