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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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konnte, war ein Paradies für mich. Es gefiel mir, wie die Erwachsenen sich unterhielten; sie vergaßen immer, dass ich da war, und erzählten sich die merkwürdigsten Dinge. In diesem Sommer tratschten die Redakteure und Marlene, Art Director der Zeitschrift, über die Affäre zwischen dem Verleger und der Chefredakteurin des Magazins. »Ein ziemlich bizarrer Auswuchs von Santa-Ana-Fieber«, kommentierte meine Mutter vom Montagetisch. »Die spitzschnabelige Magersüchtige und der toupierte Chihuahua. Das ist mehr als grotesk! Ihre Kinder wüssten wahrscheinlich gar nicht, ob sie Körner picken oder bellen sollten.«
    Sie lachten. Meine Mutter sprach immer aus, was die anderen nur dachten.
    Ich saß an dem leeren Zeichentisch, der neben dem meiner Mutter stand, und zeichnete die Jalousetten, die das hereinfallende Licht wie einen Käse in Scheiben schnitten. Ich wartete darauf, was meine Mutter als Nächstes sagen würde, doch sie setzte sich wieder ihre Kopfhörer auf, so wie man einen Punkt ans Ende eines Satzes setzt. Das war ihre Art, den Umbruch zu machen: Sie hörte exotische Musik und gab vor, weit weg in einem duftenden Königreich aus Feuer und Schatten zu schweben, statt an einem Skizzentisch in einer Zeitschriftenredaktion zu sitzen und für acht Dollar die Stunde Interviews mit Schauspielern zu montieren. Sie konzentrierte sich auf die Bewegungen des stählernen Papiermessers, während sie die Spalten schnitt. Sie zog die langen Papierstreifen ab, die am Messer hängen blieben. »Ich ziehe ihnen die Haut ab«, sagte sie immer. »Die Haut dieser geistlosen Schreiberlinge, die ich dann auf die Seiten transplantiere, um Monster der Bedeutungslosigkeit zu schaffen.«
    Die Redakteure lachten verlegen.
    Niemand nahm Notiz davon, als Bob, der Verleger, den Raum betrat. Ich senkte den Kopf und legte eifrig den Kreuzwinkel an, so als ob ich irgendetwas Hochoffizielles erledigte. Bis jetzt hatte er noch kein Wort darüber verloren, dass ich meine Mutter immer zur Arbeit begleitete, doch Marlene hatte mir geraten, »tief zu fliegen und den Radar zu meiden«. Er schien mich nie zu bemerken. Bloß meine Mutter. An diesem Tag trat er dicht hinter ihren Schemel und spähte über ihre Schulter hinweg auf den Umbruch. Er wollte wohl nur nahe bei ihr stehen, ihr Haar berühren, das so weiß wie Gletschermilch war, und versuchen, ob er nicht einen Blick in ihren Ausschnitt erhaschen konnte. Ich sah die Verachtung auf ihrem Gesicht, als er sich über sie beugte und sich dann, so als habe er das Gleichgewicht verloren, mit der Hand auf ihrem Oberschenkel abstützte.
    Sie tat so, als ob sie aufschreckte, und schnitt ihm in einer einzigen sparsamen Bewegung mit der scharfen Klinge des Papiermessers in den nackten Unterarm.
    Er betrachtete seinen Arm, verwundert über den Blutfaden, der an die Oberfläche quoll.
    »Oh, Bob!«, sagte sie. »Es tut mir so Leid, ich habe dich gar nicht gesehen. Alles in Ordnung?« Doch der Blick, den sie ihm aus ihren kornblumenblauen Augen zuwarf, zeigte ihm, dass sie ihm genauso gut die Kehle hätte durchschneiden können.
    »Kein Problem, nur ein kleines Missgeschick.« Dort, wo der Ärmel seines Polohemdes endete, prangte ein fünf Zentimeter langer Schnitt. »Nur ein Missgeschick«, wiederholte er etwas lauter, so als ob er alle beruhigen wollte, und zog sich hastig in sein Büro zurück.
    Während der Mittagspause fuhren wir in die Berge und parkten im Halbschatten einer großen Platane, deren puderweiße Rinde sich wie ein weiblicher Körper vor dem unwirklich blauen Himmel abzeichnete. Wir aßen Joghurt aus Pappbechern und hörten eine Kassette, auf der Anne Sexton ihre Gedichte in ihrem schaurigen, ironisch gedehnten Tonfall vorlas. Sie las gerade, wie sie bei der Musiktherapie in einer psychiatrischen Klinik die Glöckchen klingen ließ. Meine Mutter hielt die Kassette an. »Sag mir die nächste Zeile auf.«
    Ich mochte es, wenn meine Mutter versuchte, mir etwas beizubringen, wenn sie mir Beachtung schenkte. Oft genug erschien sie mir unerreichbar. Wenn sie dann aber ihre Aufmerksamkeit auf mich richtete, spürte ich eine Wärme, wie Blumen sie wohl fühlen, wenn sie durch den Schnee nach oben dringen und die ersten gebündelten Sonnenstrahlen erhaschen.
    Ich musste nicht lange nach der Antwort suchen. Sie kam wie ein Lied. Das Licht brach sich in den Blättern der Platane, während die verrückte Anne ihr Glöckchen in es-Moll läutete und meine Mutter nickte.
    »Gedichte solltest du
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