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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land
Autoren: Martina Sahler
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hatte. Er fühlte sich, als liefe ein eiskaltes Rinnsal über seinen Rücken. Der Stiel der Mistgabel, die noch in seinem Vater steckte, zeigte wie ein anklagender Finger auf die Mutter. Ein Gemisch aus Blut und Gedärm sickerte aus dem Körper des Toten in den Hofschlamm.
    Bernhard riss den Blick von seinem toten Vater los und starrte in die wässrig rötlichen Augen der Mutter. Worum flehte sie stumm? Er möge die Tat ungeschehen machen? Er möge sie in den Arm nehmen und trösten, ihr beistehen im Angesicht des Toten?
    »Bernhard, ich …«, begann sie schließlich mit heiserer Stimme zu stammeln.
    Mit einem Satz war er bei ihr, umfasste, so sanft es ihm ob seiner brennenden Gefühle möglich war, ihre Schultern. »Was ist passiert, Mutter? Was?«
    Sie schluckte. »Er war … Er hat wieder …«
    »Hast du ihn umgebracht, Mutter? Hast du es getan?« Sein Herz brannte vor Mitgefühl, als er die Qual in ihren Augen erkannte. Tränen lösten sich und suchten sich ihren Weg zwischen den Furchen ihres Gesichts.
    »Ich wollte es nicht, Bernhard. Du musst es mir glauben, ich … er …« Ihre Stimme schwoll an, klang nun fast hysterisch.
    Wie gut konnte er sie verstehen … Ein Wunder, dass sie es nicht schon früher getan hatte.
    Was konnte ein Mensch ertragen an Erniedrigung? Bernhard wusste um das Leid seiner Mutter, hatte in all den Jahren mit ihr gelitten, als Junge in die Kissen geweint, als Heranwachsender versucht, Herr über die Wut zu werden, die in ihm kochte wie Lava in einem Vulkan. Wut auf den Vater, Wut auf dieses Leben, zu dem er verdammt war … Nein, er würde keine Träne um den Toten weinen, der mit dem Gesicht im Misthaufen zu seinen Füßen lag.
    Bernhard versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Situation war eindeutig. Jeder, der seinen Vater so liegen sah, würde wissen, dass er ermordet worden war.
    Das durfte nicht geschehen …
    Seine Mutter war viel zu verwirrt und schwach, um sich zur Wehr zu setzen. Sie würde alles gestehen, wenn nur ein scharfer Blick sie traf.
    Er musste es anders arrangieren …
    Er musste seine Mutter da heraushalten.
    Sie hatte es nicht verdient, am Galgen zu hängen – wenn das einer verdient hatte, dann der Tote zu seinen Füßen, dem der letzte Rest Lebenssaft aus dem Körper floss.
    Bernhard holte tief Luft, schaute hinab auf den Vater, in die Scheune, fasste einen Plan …
    »Es war ein Unfall, Mutter«, sagt er schließlich. »Komm, pack mit an!«
    »Was … was redest du da, Bernhard?« Hilflos hob Marliese die Arme und ließ sie wieder sinken. »Es war kein Unfall, ich habe ihn getötet …«
    Mit einem Ruck wandte er sich ihr wieder zu, umfasste kräftig ihre Oberarme. »Wir ziehen ihn unter den Heuboden und verwischen alle Spuren … Am Ende wird es aussehen, als sei er unglücklich von oben herabgestürzt und geradewegs mit dem Bauch in die Mistgabel …«
    »Aber … aber das ist nicht richtig, Bernhard. Der Herrgott wird uns strafen …«
    Bernhard hatte bereits die Leiche unter den Schultern gepackt. »Nimm jetzt seine Füße, Mutter, und hilf mir! Der Herrgott wird uns nicht strafen. Er will nämlich, dass du mit uns nach Russland gehst, und nicht, dass du hier am Galgenbaum hängst.«
    Kraftlos baumelten Marlieses Arme neben ihrem Körper. »Ich kann nicht mit nach Russland, Bernhard. Wie soll das gehen? Ich bin schwach, ich bin krank, ich bin euch Kindern nur ein Klotz am Bein …«
    Bernhard biss für einen Moment die Zähne aufeinander. »Du wirst es schaffen, Mutter. Wenn du nicht mitgehst, bleibe ich auch hier.«
    Marliese schloss die Augen und atmete tief ein, als brauchte sie unendlich viel Kraft und wüsste nicht, woher sie sie nehmen sollte. Schließlich hob sie die Lider, schluckte und bückte sich, um Johanns Füße zu packen, wie ihr älterer Sohn es angeordnet hatte.
    Wie stark ihre Hände zitterten. Bernhard wusste, was sie brauchte. Doch der Branntwein musste warten, bis sie ihr Werk verrichtet hatten. Nichts war jetzt wichtiger, als den Anschein zu erwecken, dass der Schuster Johann Röhrich, Gott hab ihn selig, kurz vor seinem Aufbruch nach Russland bedauerlicherweise tödlich verunglückt war.

    Mit mehlweißem Gesicht, die Augen rund wie Hühnereier, kauerte Alfons unterm Scheunendach im Heu und streichelte das haarige Knäuel in seinen Pranken, während sein Blick nicht von dem Geschehen unter ihm wich.
    Er hatte alles gesehen. Wie der Vater mit der Christina gezappelt und gegrunzt hatte gleich einem Eber
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