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Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Titel: Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Autoren: Hildegund Keul
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aber nur wenig oder gar nichts, um drohende Verwundungen zu verhindern. Um es deutlich zu sagen: Das Verhalten der Menschen in der Herberge ist der alltägliche Normalfall. Das hat damit zu tun, dass jeder Mensch Ressourcen für sich selbst und für die eigene Gemeinschaft braucht. Man muss sich davor schützen, dass Andere auf die eigenen Ressourcen zugreifen – falls man überhaupt die Macht dazu hat. Selbstschutz ist eine unverzichtbare Lebensstrategie.
    Wir wissen nichts über die Lebensgeschichten und die momentane Situation der Herbergsleute und warum sie ihre Ressourcen für sich behalten. Es mag Bösartigkeit sein, dass man nicht teilen will, sondern alles für sich hortet. Oder man schätzt aus Nachlässigkeit oder Unkenntnis die Situation falsch ein. Man hat selbst Kinderzuhause, die versorgt werden wollen, oder Alte, Bedienstete, Pflegebedürftige. Vielleicht will man auch deswegen lieber gar nicht so genau hinschauen. Das Wegschauen ist in der Strategie der Herbergsleute ein entscheidender Punkt. Weil man sich vor dem Verlust eigener Ressourcen schützen will, schaut man nicht so genau hin, wenn sich bei Anderen Verwundbarkeit zeigt. Wenn man genauer hinschauen würde, dann würde man sich vielleicht anrühren lassen von dem, was sich zeigt. Wer wegschaut, bleibt unberührt von der Not Anderer. Wer hinschaut und sich öffnet, macht sich selbst verletzlich.
    Aber auch mit dem Wegschauen kann man sich schuldig machen. »Guilty bystander« (schuldig daneben Stehende) hat der Mystiker Thomas Merton jene Menschen genannt, die schuldig werden, indem sie neben einer Not oder einem Verbrechen stehen und nichts dagegen unternehmen. Sie befürworten die Verwundung nicht, halten sich aber die Gefährdung der Anderen dennoch konsequent vom Hals. Im 20. Jh. hat der Nationalsozialismus auf diese Strategie des Wegschauens gebaut und konnte sich gut auf sie verlassen. Die Menschen waren nicht einmal »Zuschauer«, denn sie haben ja gerade weggeschaut. Thomas Merton zeigt dabei jedoch nicht einfach mit dem Finger auf Andere, sondern er meint durchaus sich selbst. Man kann sich nicht allen Verwundungen der Welt aussetzen, nicht einmal all den Verwundungen, mit denen man direkt in Berührung kommt. Strukturell sind viele Menschen »guilty bystander«, die schuldig werden, weil sie wegschauen.
    Dies ist jedoch keine Entschuldigung für jedes Wegschauen und Nichtstun. Die Herbergsleute verweisen vielmehr auf eine entscheidende Doppelfrage. Wo ist esnotwendig, sich selbst und die eigenen Ressourcen zu schützen? Und wo ist es im Sinne der Humanität notwendig, die eigenen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und Andere damit vor Verwundung zu schützen? Diese Doppelfrage ist grundlegend. Alltäglich werden Menschen mit ihr konfrontiert und müssen sich entscheiden. Das ist nicht leicht, aber unerlässlich.
    Es ist bemerkenswert, dass die Bibel die Menschen in der Herberge nicht beschuldigt, anklagt oder verurteilt. Nicht einmal die Eltern Jesu beschweren sich. Es wird nur festgestellt, dass in der Herberge kein Platz für sie war. Und dennoch hat das Verhalten Konsequenzen für die Herbergsleute. Sie treten einfach zurück und spielen keine Rolle mehr im Fortgang der Geschichte. Man könnte vielleicht erwarten, dass sie später noch dazustoßen, als die Hirtinnen und Hirten, Engel und Sterndeuter ankommen. Diese Variante wählt die Bibel nicht. Indem die Herberge die Bedürftigen ausgeschlossen hat, schließt sie sich selbst von jener Heilsgeschichte aus, die sich an Weihnachten ereignet.
Andere verwunden, um sich selbst zu schützen. Die Herodes-Strategie
    Die Menschen in der Herberge praktizieren das Wegschauen. Dass es schlimmer geht, zeigt Herodes, der König über Judäa, Galiläa, Samarien, Idumäa und Peräa. Hier haben wir es nach Kaiser Augustus mit der zweiten politischen Machtfigur der Weihnachtsgeschichte zu tun. Herodes ist ein machtvoller Herrscher, denn er kann Kriegszüge anzetteln, Menschen vor Gericht bringen,prachtvolle Gebäude errichten und Steuern eintreiben lassen. Zugleich ist er als von Rom eingesetzter Vasallenkönig ein Abhängiger, der immer befürchten muss, bei den Herrschenden in Ungnade zu fallen. Ein falscher Schritt und er ist weg vom Thron. Er lebt in unruhigen Zeiten, wo Herrschaften wechseln und alle auf ihren Vorteil bedacht sind.
    Seine Position, stabil und fragil zugleich, gibt Grund für Befürchtungen aller Art. Er ist offiziell jüdischen Glaubens und vertritt diesen Glauben auch in
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